Deine Wirtschaft ist alles, Du bist nichts.

Nikolai Berdyaev erkannte schon früh die aufkommenden Probleme der GesellschaftEin Auszug aus meinem Essay über den Weg von zynischen christlichen Werten zur anhaltenden Entfremdung in der Moderne.

Was hat der Kapitalismus nun mit der Demokratie zu tun? Prinzipiell gar nichts. Erinnern wir uns an die Kirche und ihr Verhältnis zum Staat: Sie hat mit ihren Dogmen den Gläubigen den Glauben entrissen und ihn zum kollketiven Ritual gemacht. Ihr Spät-Zynismus und die Entfremdung der Gläubigen von sich selbst hat Regenten ein geregeltes gesellschaftliches System vorgezeichnet, in jenem man sich Gottesfürchtigkeit zunutze machen konnte.

Ist es nicht ähnlich mit dem Kapitalismus? In einer säkularisierten Gemeinschaftsordnung ist offenbar der Sinn für Soziales geschwächt. Individualismus wird ausgerufen und ist doch nichts anderes als Zynismus an uns selbst. Wir brauchen keine Popen, Pfaffen und Kindesmißhandler. Ebenso kann und der Sozialismus der Gleichschaltung gestohlen bleiben. Verschrobene Vorstellungen von genereller Dichotomie, von Gut und Böse finden wir naiv und pochen auf Freiheit. Dem Kapitalismus bietet sich das perfekte Einfallstor in die menschliche Ordnung: Sein Heilsversprechen ist das des Lohnes für Leistung. Sein Mittel ist die Zerstreuung – der Keil, der in das soziale Miteinander geschlagen wird. Er selbst hat keinen Gott, keine Dogmen und keine Parolen. Es ist ihm gleichgültig, denn seine Grundlage findet sich in der menschlichen Veranlagung des Begehrens, des Neides und der Gier. Er macht Menschen zu freiwilligen Dienern und Sklaven, weil jene ihre Lage meist nur als temporär empfinden und sich der verschwommenen Aussicht auf Reichtum hingeben. Weil jene allen Ablenkungen der modernen Welt erliegen, die von der eigenen Misere hinwegtäuschen und betäuben. Der Kapitalismus ist ein totes Prinzip. Er lebt alleine in Unternehmern. Die haben gelernt, wie man Bedürfnisse zum Opium des Volkes zur Gewinnmaximierung nutzen kann. Insbesondere die Medien sind seit ihrer Fähigkeit, die Massen zu erreichen, ein ausgesprochener Katalysator dieses Prinzips geworden. Es liegt nahe, eben jene für seine Botschaften zu benutzen. Das ist, die eigenen Produkte zu konsumieren. Medien streuen willig Werbespots und damit grobe Zerstreuung unter’s Volk. Die Politiker haben dagegen diese pluralistischen und wirtschaftlich-konkurrierenden Botschaften der Unternehmen unfreiwillig gebündelt und damit die Botschaft des steten Konsums zur Prämisse des Wohlstandes erhoben.

Politiker aller westlichen Länder waren tatsächlich gut beraten, sich dem Wachstumsparadigma der goldenen Nachkriegsjahre anzuschließen: Es war genügend Geld für alle da – sogar für die Kranken und sozial Schwachen. Zinsen und Spekulation haben das Geld jedoch knapp werden lassen. So wurde geliehen und verliehen und Bürgschaften auf die Leistungsfähigkeit der Staaten ausgehändigt. Staaten werden unverhohlen von Privatfirmen an ihrer Leistungsfähigkeit gemessen – als res publica oeconomica. Ihre Bürger sind die Bürgen für Privatiers und nun wird die Spreu vom Weizen getrennt: Griechen, Italiener, Iren, Portugiesen, Spanier – alles faule, nichtsnutzige, korrupte Ansammlungen von Menschen, die nicht fair, gemäß den Regeln des Kapitalismus spielen. Damit wird impliziert, die Einstellung der Menschen hätten die Märkte ruiniert: Nicht die Regeln der Märkte sind unstimmig, sondern das menschliche Verhalten; ein fairer Wettbewerb muß dem Einzelnen Regeln auferlegen. Das ist das Paradigma der Jünger des Neoliberalismus. Bankencrashs seien Folgen einiger Fauxpas einzelner. So verwundert es nicht, wenn es heißt, daß man „die Märkte beruhigen“ muß. Solche Absurditäten sind die eines kaputten Systems.

Banken und Unternehmer erheben keine unmittelbare Anklage; auch Politiker reden diplomatisch. Zumindest jene außerhalb der Gefahrenzonen. Von dort aus wird reguliert und konspiriert: Die in Griechenland und Italien eingesetzten Ministerpräsidenten, der eine ehemals Vizepräsident der EZB, der andere EU Kommissar, sollen die Eisen aus dem Feuer holen, also die Assets retten, die zu retten möglich sind. Assets, das sind Vermögen weniger, also nicht für die Bürger dieser Länder, versteht sich.

Was dem Kapitalismus gegenüber sozialistischen oder religiösen Gemeinschaften zu nutze ist, ist die Tatsache, daß er eben keiner Dogmen bedarf, sondern den Einzelnen an seine selbstverschuldete Unmündigkeit erinnert: Unmündigkeit wird hier im Sinne von mangelnder Leistungsbereitschaft verstanden; letztlich in der Form von Sozialdarwinismus. Dem Individuum wird keine Angriffsfläche für seine Sorgen und seinen Ärger geboten, denn der Kapitalismus hat kein Gesicht, keine Bibel und keine gebundenen Werke leninistischer Weisheiten. Demokratie ist für ihn das passende politische System, denn es erlaubt die gefühlte Pluralisierung der Politik. Jeder darf denken und sagen, was er will – es interessiert nicht, denn Märkte besitzen keine Regelwerke.