Herz statt Hetze in Chemnitz

Es ist richtig, gegen Hetze aufzurufen. Doch darf das nicht von Zynikern kommen, welche Humanismus durch gelebte neoliberalen Politik zynisch paraphrasieren.

Es ist gut, „Herz“ zu haben. Was auch immer das bedeuten mag; es soll im Kern wohl die humanistische Seite des Menschseins bezeichnen. Man haßt und hetzt nicht gegen Mitmenschen. Man ist kein Rassist. Das ist die Nachricht und sie ist richtig.Doch hier spielt sich etwas auf der falschen Ebene ab, denn es gibt noch andere Prärogativen: Man beutet Menschen nicht bis zur Versklavung aus. Man übernimmt keine Ressourcen und Volkswirtschaften mittels einer Treuhand. Man läßt sich nicht sozial spalten durch Neid, Konsumgier und die protestantische Ethik der „Arbeit-macht-Frei“ Manier.


Cem Özdemir, um nur einen zu nennen, marschiert mir, skandiert humanistische Werte. Dagegen ist nichts einzuwenden. Er vertritt zugleich hohle Phrasen im Sinne von: „ihr ungezogenen Wähler, benehmt euch! Besinnt euch auf unsere Werte!“ Daß der Spruch „Wir sind ein Volk“ zum Slogan einer hetzenden Minderheit wird, ist unglücklich. Die „Revolution von 1989“ für sich einzuspannen, welche eine „Revolution der Freiheit“ war, ist in Özdemirs Augen unerträglich. Stimmt. 


War 1989 tatsächlich eine Revolution der Freiheit? Türken verkauften überteuert Teppiche, die rostigen VW’s überfluteten Ostdeutschland, Frauen verließen ihre Familien für windige Freier aus dem Westen, Betriebe wurden regelrecht „platt“ gemacht, Menschen in Massen entlassen, die Renten wurden gekürzt, die Ostmark wurde entwertet. Westdeutschen, die in öffentliche Ämter wechselten erhielten „Buschzulagen“, die Ostdeutschen, welche bleiben durften, wurden einen Rang herab degradiert. Die Ideologie des Sozialismus wurde per se als überkommene Lüge dargestellt. Die Ostdeutschen wurden „umgeschult“ und fit gemacht für die schöne neue Welt. Kurz: Den Ostdeutschen wurde das Gefühl gegeben, Menschen zweiter Klasse zu sein. Von Anfang an.
Strauß’ 15 Milliarden Kredit war aufgebraucht und auch die BRD befand sich in wirtschaftlichem Abschwung. IKEA, wie andere Konzerne, Nutznießer ostdeutscher Lohnsklaverei, zog seine Produktionsstätten aus Ostdeutschland und eröffnete Filialen. Heute gibt es die „IKEA-Linie“ der Straßenbahn in Magedeburg. Ja, die Ossis sind schön blöd: Denn sie huldigen, genau wie ihre Schwestern und Brüder aus dem Westen, schwedischen Billigmöbeln. Und sie haben gelernt, mit der Tatsache zu leben, Nutznießer eines versklavenden Kapitalismus zu sein, welcher noch weiter gen Osten gezogen ist.


Die Ostdeutschen waren keine Russen. Aber sie waren den Sowjets nahe genug, um die russische Seele zu atmen. Der Mensch fragt im Leben nach Sinn. Dazu gibt es Kirche, Arbeit oder Ideologie. Die stabilisierende Ideologie der „großen UdSSR“, der eigenen „Sache“ wurde 1989 eingestampft, als wäre die durchtriebene Unterwerfung der Ostdeutschen durch eine Gruppe selbstgerechter Aristokraten schändlicher als die wirtschaftliche Ausbeutung durch die Gleichen im Westen. Neben die Arbeit ist die Möglichkeit der Zerstreuung getreten. Damit können Ostdeutsche nichts anfangen. Die ordnende Kraft einer Ideologie fehlt. Mehr noch: der einzige Stabilisator sozialer Identität wird bis heute als Unsinn verpönt und mit ihr ein Teil der ostdeutschen Seele.


Wenn heute von Özdemir und anderen Mainstream-Politikern von „Freiheit“ geredet wird, klingt das nach Hohn. Denn Özdemir, wie seine Kollegen, sind politisch in einem Klüngel groß geworden, welcher dem Neoliberalismus das Wort redet. Die politischen Prototypen sind jene der Ja-Sager zu Programmen der Lobby von Unternehmensverbänden und der Verbreiter des Wortes von „Vollbeschäftigung“ im Sinne jener „Arbeit-macht-frei“-Mentalität einer neoliberalistischen Ökonomie. Ironisch, daß jene Mentalität als faschistisch bezeichnet werden kann, wo sie den heutigen Rechten eigentlich diametral gegenüberstehen sollte. 


Es ist zudem nicht ohne Beigeschmack, wenn eine SPD Politikerin das Einstehen in die „Errungenschaften unseres Rechtsstaat“ fordert. Ein Rechtsstaat, welcher seit Gerhardt Schröder von einer der großen sozialen Volksparteien große asoziale Risse bekommen hat. Ein Rechtsstaat dessen Ordnung sich vermehrt auf Besitzsicherung und Freiheit des Kapitals richtet. Art 14 I Grundgesetz: „Eigentum verpflichtet“ hat offenbar auch bei der SPD lediglich die Bedeutung, Grundsteuern zu begleichen. Das Gerede von FDP Mitgliedern sei hier gar nicht erst erwähnt.


Zwar soll gegenwärtigen Politikern der Wille zur Veränderung nicht abgesprochen werden. Zu einem aktiven Humanismus gehört es politisch jedoch, das soziale Element zumindest dem wirtschaftlichen gleich zu stellen. Die korrumpierte Rückgratlosigkeit der Politik in einer Zeit hyperaktivem Kapitalismus hat für den sozialen Verfall in einer technologisch avancierten Gesellschaft gesorgt. Sie hat damit alte Muster des Widerstandes einer neuen abgehängten Klasse und zugleich die Devolution zum Rassismus heraufbeschworen.
Humanistische Werte zu bemühen, welche durchsetzt sind mit neoliberalistischer ‚Propaganda‘, also die Verquickung von Demokratie, Freiheit und dem gegenwärtigen ökonomischen System, ist der große Irrtum etablierter Parteien.