Die große Zerstreuung (Teil 1)

Ist es einfach, ein mündiger Mensch zu sein?

Sind wir mündig?

Wir sagen ja, doch das bilden wir uns ein, weil wir eitle Affen sind. Wer gibt schon zu, Dinge nicht zu verstehen, die ihn selbst betreffen. Politik und Wirtschaft – unzertrennlich – werden verdammt, weil die Analyse so schwer gemacht wird. Weil der Mensch zerstreut wird. Deshalb werden „notleidene Banken gerettet, notleidende Menschen doch nicht“ (H. Rether), deshalb werden wir von Terror heimgesucht, dem ein Turban aufgesetzt wird, daher werden wir mit Skandalen überzogen, wenn einer seine Doktorarbeit abgeschrieben hat usw…

Was sich in Deutschland immer gut macht: der braune Terror, die NPD. Dazu nur soviel: Die bedohlichen Ausmaße, welche er angenommen hat in den letzten Jahren, existieren nur in unseren Köpfen. Wir reflektieren das, was man uns vorgaukelt. Und erstaunlicherweise korreliert die rechte Gefahr immer mit unseren Krisen. Die NPD ist seit den 60er Jahren in Deutschland organisiert und seit jeher ein perfekter Hackklotz. Die mediale Vor-Verurteilung der Rechten ist ein Paradebeispiel für erfolgreiche Zerstreuung. Wir schämen uns fast, wenn wir nicht in den Anti-Nazi-Heulgesang einstimmen, denn wir wissen eines genau: „NPD = böse“. Damit sich niemand in seiner „political correctness“ gestört fühlt, stelle ich klar, daß ich von den NPDlern soviel halte wie Dreck unter den Fingernägeln. Zumindest von ihrer Einstellung. Und da könnte ich gleich eine Liste von diversen Personen aus den übrigen etablierten Parteien anhängen. Eines steht doch fest; nämlich daß es kein größeres NPD Problem gibt als vor der Finanzkrise. Wenn der Verfassungsschutz tatsächlich ausreichende Evidenz vorlegen könnte, daß die NPD darauf abzielt, „die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen“ (Art. 21 II GG), wäre eines der Verbotsverfahren schon längst erfolgreich gewesen. Das tatsächliche Problem mit der NPD liegt lediglich darin, daß der Staat mittels seiner V-Männer den Laden schmeißt und das Bundesverfassungsgericht formell kein Verfahren fortführen konnte.

Homo homini lupus – es hat sich nichts geändert. Das Trügerische unserer Zeit in der wir uns als zivilisiert und gebildet sehen, ist der Schein unserer Freiheit: Sie wird uns zugestanden, weil sie billig ist. Demokratie ist billig, denn sie taugt nichts, wenn man ihre Tatsächlichkeit umgehen kann. Es gab zu allen Zeiten Menschen, die anderen das Fell über die Ohren gezogen haben und jene, welchen das Fell über die Ohren gezogen bekamen. Letztere waren und bleiben immer die Massen – nicht, weil sie weniger intelligent oder arbeitsam sind als jene, die Macht gewonnen haben. Sondern die Masse ist nötig für eine Differenzierung – im logischen wie im tatsächlichen Sinne. Logisch können nicht alle „oben“ sein, sonst wäre unten die Elite. Tatsächlich  würde die Rechnung ohne uns alle nicht aufgehen: Will man viel, muß man Viele ausnutzen. Das sind intellektuell aufgeputschte Binsenweisheiten.

Heute ist der Lebensstandard der Menschen in den Industriestaaten so hoch, dass wir nirgendwo den Wolf im Menschen für wahr nehmen. Das Elende und Erhabene interessiert uns nicht. Nur das Schöne. Wir sind für Ablenkung offen wie wahrscheinlich nie in der Geschichte zuvor. Es gibt sie immernoch – diejenigen, welche dem „kleinen Mann“ das Fell über die Ohren zieht. Sie tritt ebenso offen in Erscheinung wie der Adel in früherer Zeit, gibt sich als Gleicher unter Gleichen. Wir scheren uns wenig um die superreichen Einflußreichen, solange wir keine Zweifel an unseren Traum vom sorgenfreien Dasein haben. Wir können mit ihnen leben, weil wir Bescheidenheit geübt haben; wir brauchen nicht superreich zu sein zum Leben – ein Häuschen, Wärme, Liebe und ein Hobby genügen uns. Wer braucht schon einen Hubschrauber, wenn’s zum VW reicht? Und für jene, die der Neid plagt, soll der eine Gedanken beruhigend wirken, daß man selbst zu Reichtum kommen kann. Irgendwie.

Allerdings spüren wir allerenden die Auflösung der Gleichheit: Der Mensch ist nicht gleich. Das Recht in seiner unendlichen Gleichgültigkeit regiert in ebensolcher Nüchternheit. Die Zeit als Vertragspartner gleichgestellt waren hat es nie gegeben: Mieter und Vermieter, Arbeiter und Arbeitgeber, Bank und Bankkunde. Sind das Vertragsverhältnisse bei denen die Parteien auf gleicher Augenhöhe stehen? Ganz sicher nicht. Davon zeugen auch die Sozialgesetze zur Regulierung: Das Arbeitsrecht, das Mietrecht… ein Banken-Sozialrecht gibt es nicht. Nur den kläglichen Versuch der AGB-Paragraphen im BGB, den Banken und Versicherungen seit Jahrzehnten schamlos ausnutzen. Erinnern Sie sich an das Kleingedruckte in ihren Finanzverträgen? Haben Sie es überhaupt gelesen? Daran schuld ist das uns gegebene Grundvertrauen. Und obwohl (vor allem der Deutsche) grundsätzlich die Distanz einhält, ist es doch das verdammte Vertrauen in den Versicherungsvertreter als Menschen, als Mit-Leidenden, der uns auf eine korrekte Beratung und das Kleingedruckte spucken läßt.

Dieses herrliche Hin- und Her, das ewige Schuldenmachen hat funktioniert. So, wie das Rentensystem. Vom letzteren bezahlen wir schon seit Jahren die Schulden – und wir werden darauf vorbereitet, auf unsere Altersarmut. Deutschland, Europa, Amerika, China – wir werden ausverkauft. Jahrelang mithilfe der Bonität des arglosen Steuerzahlers, heute werden reale Werte abverlangt. Noch mehr Steuern, noch mehr Arbeit. Es geht den Menschen in der westlichen Welt langsam an die Substanz; die übrige Welt leidet schon seit Ewigkeiten bitterlich und hat keine Möglichkeit, sich zu wehren. Die westliche Welt hat – wir haben – noch immer die Chance, unsere Entrüstung zu gebrauchen, solange wir noch einige Mittel der Macht haben: Internet, keine Hungersnot, das Recht, den letzten verbleibenden Funken Demokratie.