Die Mobilisierung von Zeitmessgeräten

“Du mußt dir das mal vorstellen!” Mit einer Mischung aus Begeisterung und Abscheu öffnete er seine Handflächen.

Jay, der Verschwörungstheoretiker, ging so weit, zu behaupten, Geburtstage wären eine Erfindung altägyptischer Hochkulturen. Als diese einsahen, daß Menschen arbeitsamer waren, wenn sie sich vor Zeit fürchteten, mußte man ihnen die Zeit in’s Bewußtsein rücken.Seitdem zählten wir unsere Jahre, quantifizierten unser Leben… 

“Du mußt dir das mal vorstellen!” Mit einer Mischung aus Begeisterung und Abscheu öffnete er seine Handflächen. 

“Leute, die die ständig an die ihnen verbleibende Zeit erinnert werden. Die kriegen doch ‘nen Knall!”

Dann hielt er mir eine goldene Uhr an einer Kette entgegen.

“Hier, von meinem Großvater. Die ganze industrielle Revolution ist doch nur auf die Mobilisierung von ‘Zeitmessgeräten’ zurück zu führen. Effizienz, bamm…” Er schlug die Seite seiner Faust in die andere Hand und zog später die Schultern hoch. 

Ich gab meinem Handy auf dem Couchtisch einen kritischen Blick. Jay fing ihn auf. Mit hochgezogenen Augenbrauen sprang er auf und hob die Hände in die Luft.

“Heureka, Alter! Verstehste!? Das ist die Nächste Stufe, oder next level, wie man im Neudeutsch sagt.”

“Ist die Anglifizierung deutscher Sprache auch Ursache für… irgendwas?”

Irritiert glotzte er mich an. Ich hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Nun verweilte er wieder auf der Gedankenautobahn. Nachdem seine Synapsen zu hunderttausenden in kunstflugartigen Spiralen einige Sekunden lang gefeuert hatten, was das Zeug hielt, wischte Jay die Sache förmlich aus der Luft. Hastig schob er ein, daß er darüber nachdenken müsse, aber nicht jetzt… obwohl. Er grübelte wieder ein paar Sekunden, in denen ich zu meinem Telefon griff. Keine Ahnung, warum ich das tat. Es lag vor mir, fing meinen Blick und ich hatte das Bedürfnis… Wie damals, wenn Zigaretten vor mir gelegen hatten. 

Als ich das einsah und die Tatsache, daß ich Jay gerade Treibstoff gab, ging ich in die Offensive, um mein Desinteresse am Gespräch zu übertünchen. Ich drehte und wog das Telefon in meiner Hand, nickte kurz nachdenklich und sah zu ihm auf. 

“Also… Mobiltelefone, was?”

Natürlich hatte ich ihm eine Brücke geschlagen. Jay war nicht zu bremsen. Ich kann mich kaum erinnern, oder nur lückenhaft. An einigen Stellen zog der einen Vergleich mit Junkies, daß Effizienz die Konsequenz der Zeiteinteilung sei, weil sonst nicht meßbar… Ich hatte immer mal “ja” oder “da ist was dran” geantwortet. Wobei, wenn ich es zugebe, die Aussage “da ist was dran” Gewicht hatte, liegt die immerhin jenseits der Grenze zur Egalität. Als ich ihn verließ, kam eine Erinnerung hoch. Ich wollte noch einen Klempner anrufen, ob der die Teile für meine Dusche bekommen hatte. Mir ging durch den Kopf, daß es im Prinzip keine Eile hatte. Der Klempner würde sowieso auftauchen – oder eben auch nicht. Als beschloß ich, den Anruf auszulassen. Als ich den Alarm auf dem Bildschirm wegschob, entblößte der zwei neue Nachrichten. Die las ich dann.