Die zerstörte Balance

Also lehnen wir uns zurück und ignorieren den Fakt, daß Cyber-Krieg schon lange Realität ist; daß ganze Städte und Landstriche mit ENTER-Tasten ausgeknipst werden können. Mit dieser Realitätssicht ist es einsichtig, daß wir eben einen besseren Spionageapparat brauchen. Internationale Datenschutzabkommen, so Adam, benachteiligen jene, welche unterzeichnen. Es bleibt uns also nichts, als hinzunehmen, daß unsere Grundrechte mit Füßen getreten werden? Treten wir doch mal einen Schritt zurück – aus der Realität hinaus – wir müssen diese ja nicht als unabänderlich akzeptieren.

„Checks & balances“ ist der anglizistische Terminus, „was geht’s mich an“ ist der gemeine. Niemand hätte etwas zu verbergen – die vielzitierte Aussage der meisten Bürger, die mit dem „Abhörskandal“ konfrontiert werden. Skandiert wird nirgends, weil die sogenannte „mentale Trägheit der Masse“ ein gewaltiges Problem der Balance offenbart, das die Kontrolle lediglich zum Komplementär macht: Ein System, welches höchst-private Daten sammelt mit einem Stromverbrauch von 65 Megawatt, Millionen von Betroffenen, welche ihre Daten freiwillig dort hineinmailen, -scannen, -fotografieren, -sprechen. Irrsinn. „Ich habe doch nichts zu verbergen!“ – dieser Spruch markiert die Ahnungslosigkeit oder den Irrtum des Einzelnen über das, was er täglich von sich preisgibt. Da sind eigene Daten, welche einem selbst nicht bewußt sind: Man nehme eine Webcam und schieße jeden Tag ein Bild von sich. Oder man schaue auf die im letzten Monat via GPS aufgezeichneten Daten – die Muster, welche man mit dem Fahrrad abfährt. Vielleicht gewinnt man sogar neue Erkenntnisse über sich selbst. Auf der anderen Seite: Richtig ist die Annahme, daß die NSA die Daten zur eigenen Person nicht aufgreifen und im Detail durch die Mangel nehmen wird – bei den meisten von uns. Der Jedermann ist zu unbedeutend, um eines der Goldkörner in den „Bergen von Sand“ zu sein [Rudolf G. Adam : „Die naive Empörung der Deutschen“ in der Süddeutschen].

Mehr Realismus

Der Deutschen Empörung über Spionage ist also naiv? Das mag durchaus sein. Die Frage, woher diese Naivität stammt, wird von Adam nicht aufgeworfen. Sicher: Die Deutschen haben die Gestapo und die Stasi hinter sich. Aber bei wem aus der neuen Internet-Generation ruft das mehr als historische Empfindungen hervor? Herr Adam hat ganz und gar recht mit seinen Argumenten: Daß andere Länder andere Sitten haben, also andere Gesetze. Daß einige Terroranschläge durch NSA Schnüffelei verhindert wurden. Daß Spionieren eben das ist, was Geheimdienste tun. Ist unsere tagtägliche Zerstreuung schuld, daß Zynismus offen zutrage getragen werden kann? Lassen wir es geschehen, Weil-es-eben-so-ist, Herr Adam?!

Ein Fußtritt auf die Grundrechte

Also lehnen wir uns zurück und ignorieren den Fakt, daß Cyber-Krieg schon lange Realität ist; daß ganze Städte und Landstriche mit ENTER-Tasten ausgeknipst werden können. Mit dieser Realitätssicht ist es einsichtig, daß wir eben einen besseren Spionageapparat brauchen. Internationale Datenschutzabkommen, so Adam, benachteiligen jene, welche unterzeichnen. Es bleibt uns also nichts, als hinzunehmen, daß unsere Grundrechte mit Füßen getreten werden? Treten wir doch mal einen Schritt zurück – aus der Realität hinaus – wir müssen diese ja nicht als unabänderlich akzeptieren.

Unabänderlichkeit?

Wie die Realität im Moment aussieht: Hungersnöte, Selbstmord chinesischen Arbeitern, Grenzen zu Favelas, den Barb-wire-fences in Südafrika, Homo-Jagd in Rußland, Billiglöhner in Deutschland, Klimawandel… die Liste ist lang. Unabänderlichkeit von Realitäten kommt denen ungelegen, welche in derselben ein gutes Leben genießen. Es ist keine Plattitüde mehr: Wissen ist Macht. Mit der gegenwärtigen Technologie lassen sich Muster in menschlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten ausmachen, Zyklen, welche einen unschätzbaren taktischen Vorteil bieten. Wer ist in besserer Situation als das gegenwärtige Establishment?

„Ich habe nichts zu verbergen“ sollte umgedeutet werden: „Ich bin und bleibe ein durchschnittlicher, unauffälliger, gehorsamer Mensch und Untertan.“ Dann hat man wirklich nichts zu befürchten.

Empfehlung:

Heribert Prantl über die Unsäglichkeit der Grundrechtsverletzung

Rudolf G. Adam : „Die naive Empörung der Deutschen“ in der Süddeutschen