Protestantische Ethik. Eine Kritik – Teil 1

Jahre später fällt es uns wie Schuppen von den Augen; es war immer diese Lüge in der man lebte. Es war Betrug an uns. An unseren Selbstbetrug, der sich einschlich, als der Putz der sozialen Mauern bröckelte, wollen wir nicht erinnert werden. An unsere Mitschuld. Alle Propaganda hatte Gewalt und Grausamkeit zur Folge. Doch “wir haben ja nichts gegen…”

Die Deutschen sind das Vorzeigevolk der Neoliberalität; die Tüchtigen, die gezähmten Zivilisierten. Der Gedanke an den letzten Weltkrieg setzt Assoziationen einer verdienten Schuld der Deutschen frei, welche heute zum unbrauchbaren Begriff geworden ist. Die alte Schuld kann nie beglichen werden, sie kann nur Mahnung sein. An die eindringliche Erinnerung eigener Fehlbarkeit und unmerklich einschleichende Unmenschlichkeit fehlgeleiteter Rationalität.

Heute sorgt der Kapitalismus mit seinem Prunk und dem Wir-Gefühl ausgehöhlter Demokratien für Humanismus: Wir sind satte Wölfe. Die Skylines der Bankenviertel gehören ja letztlich uns: Nicht, weil wir 2008 dafür gezahlt haben, sondern weil letztlich das Volk bestimmt, wo, von wem und wie Geschäft gemacht wird. Wie in unserem Land gelebt wird. Inzwischen wird mehr und mehr Menschen klar, daß es etwas nicht stimmt an dieser Idee. Daß der Preis für unser Leben immer von jemandem bezahlt werden muß. Und daß dieser Preis die Akzeptanz unserer eigenen Wertlosigkeit gegenüber dem Kapital ist. Da, wo vorher Gott stand, ist nun die Aussicht auf das bessere Leben platziert. Der protestantische Grundgedanke hat den christlichen Mystizismus zerfallen lassen: Der Mensch an sich ist wertlos, klein und hilflos. Seine Auserwähltheit für den Himmel kann er nur erahnen – mittels seiner Tüchtigkeit. In der Moderne reduzieren wir unsere Menschlichkeit auf Arbeitsleistung, den Profit und den Fetisch des Geldes. Die Summe unter’m Strich zeigt uns, wieviel Tüchtigkeit unser Leben erfüllt. Während die Zyniker lachen.

Was unsere humanistische Welt in den den Angeln gehalten hat, der Wohlstand und später wenigstens die vielversprechende Aussicht darauf, ist am Zerfallen. Die Zyniker bekommen es mit der Mehrheit zu tun, deren Glaube am Verfallen ist. Terror, Arbeitslosigkeit, Flüchtlinge sind die Hetzwörter, mit denen sich der Zynismus verteidigt.

Für die westliche Welt gibt es ökonomisch keine Alternative zur Vorstellung vom Kapitalismus, weil dessen Freiheit als eigene Freiheit mißverstanden wird. Weil die Freiheit, wie die Demokratie, vom Kapital, unserer Angst und Gier, vom ökonomischen Profitgedanken überlagert ist. Wenn von Freiheit gesprochen wird, ist es die des Handels, der Dienstleistungen, des Geldes. Wenn von Freiheit gesprochen wird, dann ist es die des Unternehmers, was politisch als “Arbeit, Arbeit, Arbeit” verkauft wird. Das Paradigma der Moderne: Wer schafft, verdient Geld. Wer Geld verdient, kann frei leben. Arbeit macht frei.

Der Kapitalismus macht nicht vor der Menschenwürde halt. Dem Kapital ist die sozial-politische Einstellung so gleich und recht wie Kinderarbeit. Führende Parteien in der westlichen Welt sind liberal in einem getrübten Verständnis von Freiheit und Demokratie. Die Diskussion um Rassismus in Deutschland ist wichtig; aber sie ist auch müßig. Wir sind durch die Angst, daß uns der Wohlstand verlassen könnte, einen sozialen Schritt zurück gegangen. Wir spüren es: Hobbes’ homo homini lupus, der Wolf, steckt in uns. Und er ist ausgehungert. Trotz warmer Wohnungen, trotz Elektrizität und günstiger Fortbewegung. Trotz Unterhaltungselektronik und Bildung. 

Land wird knapp. Man investiert, wo Geld ist, in reale Werte. Miet- und Kaufpreise von Immobilien schießen in die Höhe. Von Inflation ist erst dann die Rede, wenn die Reallöhne angehoben werden. Aber erst, wenn die Löhne des kleinen Mann angehoben werden, wird sein Geld entwertet. Dann erst wird der Begriff “Inflation” verwendet. Wohin projiziert der kleine Mann seine Wut, sobald man diese Realität am eigenen Leib spürt und durchschaut? Das Kapital ist höchst rational, so heißt es. Die Spielsüchtigen an den Börsen nicken eifrig mit den Köpfen, wobei das Kapital schweigt. 

Die Ohnmacht einer einzelnen Existenz wurde von Luther behauptet und mit dem Protestantismus verbreitet. Wer an Gott glaubt, ist nicht erlöst. Aber er weiß, daß er nur auf Gottes Gnaden in den Himmel kommt – ganz gleich, was er in diesem Leben anrichtet. Solange man es nicht selbst beendet. Wer auserwählt ist, dem sieht man es an: Fleißig, schaffend, sich aufopfernd. Und zugleich gut situiert. Man sieht also, wer für den Himmel auserwählt ist. So wird man nicht geboren: der Beginn der modernen Demokratie. Man kann es sich erarbeiten und Gewissheit erlangen: der Beginn des Kapitalismus.

 

In deren altersschwacher Phase versammelten sich kleine Gruppen von Frustrierten in Dresden und leiten eine altbekannte, doch neue Ära politischen Klimas ein. Jene, welche die Hoffnung auf den Himmel aufgegeben haben und sich nun als Auserwählte auf ihre eigene Interpretation gebaren. Als Erstbesetzer der Heimat. Verneinung, Trotz, Wut unter denen, die sich abgehangen oder bedroht fühlen. Und eine gehörige Portion Naivität, den Lauf der Dinge zum Besseren abändern zu können. Diese Naivität führt zu simplen Wahrheiten, die Wut und Ohnmacht führt zu Xenophobie. Denn da ist nichts das greifbar ist, außer Merkel und die Asylsuchenden. Der Heilsbringer Kapitalismus ist die Grundlage unseres Konsums, der wie eine Droge wirkt – den gibt man nicht leichtfertig auf.

Und nun die AfD. Alles Nazis? Ist es vorstellbar, dass eine Organisation Rassisten unter die PEGIDA mischt? Ist es vorstellbar, dass viele der “Wir sind das Volk“ – Brüllenden verdeckte Ermittler, Polizisten sind? Und ist es vorstellbar, daß eine herrschende Klasse unsere Begriffe von Freiheit, Verantwortung, Wert zu ihrem Bild formt? Erinnern wir uns an die frühen Sozial-Ismen und die Propaganda. Jahre später fällt es uns wie Schuppen von den Augen; es war immer diese Lüge in der man lebte. Es war Betrug an uns. An unseren Selbstbetrug, der sich einschlich, als der Putz der sozialen Mauern bröckelte, wollen wir nicht erinnert werden. An unsere Mitschuld. Alle Propaganda hatte Gewalt und Grausamkeit zur Folge. Doch “wir haben ja nichts gegen…”