Sokrates und das dialogische Fragen nach Recht und Staat

Sokrates war Philosoph. Aber er war keiner derjenigen, welche sich der Welt gegenüber in Schriften äußerten. Er war tagtäglich auf der Agora, dem Marktplatz Athens, zu finden, um mit den Menschen zu reden, Dialoge zu führen. Schriften vom ihm selbst gibt es nicht.

Sokrates war Philosoph. Aber er war keiner derjenigen, welche sich der Welt gegenüber in Schriften äußerten. Er war tagtäglich auf der Agora, dem Marktplatz Athens, zu finden, um mit den Menschen zu reden, Dialoge zu führen. Schriften vom ihm selbst gibt es nicht. Von Xenophon sind "Erinnerungen an Sokrates" erhalten geblieben, welche originalgetreue Berichte von seinem Leben darstellen. Trotzdem: um eine Ahnung von Sokrates' Philosophie zu bekommen, sind die Texte Platons, seines Schülers, die ergiebigsten Quellen. Man läuft jedoch Gefahr, daß - vor allem der späte - Platon immer mehr seiner Ideen in seine Werke einfließen läßt, was die klare […]

Von Xenophon sind „Erinnerungen an Sokrates“ erhalten geblieben, welche originalgetreue Berichte von seinem Leben darstellen. Trotzdem: um eine Ahnung von Sokrates‘ Philosophie zu bekommen, sind die Texte Platons, seines Schülers, die ergiebigsten Quellen. Man läuft jedoch Gefahr, daß – vor allem der späte – Platon immer mehr seiner Ideen in seine Werke einfließen läßt, was die klare Sicht auf die sokratischen Dialoge trübt.
Was heute übrig bleibt ist der „Typ Sokrates“. Man kann ihn also immer nur durch die Sicht eines Platon betrachten, was eben nicht immer der originale Sokrates sein muß.

Als Philosoph war es Sokrates‘ Eigenart, Gegebenheiten der Gesellschaft zu kritisch hinterfragen. Mit Vorsokratikern wie Thales von Milet begann nach und nach die Ablösung des Mythos durch den Logos: Man hinterfragte Naturbegebenheiten indem man nach ihrer Ursache suchte und wies strikte Verweise auf göttliches Handeln ab. Es wurde also weiter in die Tiefe gegangen.

Sokrates kann nicht als Naturphilosoph eingeordnet werden. Seine Art, die Menschen so zum Nachdenken über ihr Leben und die ihnen vorgegebenen Regeln zu bringen entsprang seinem Nichtglauben an Götter. Dies begründet sozusagen den Ausgangspunkt der hier vorgestellten Rechtsphilosophie. Seine „Kritik“ brachte ihm eine Anklage wegen „Verderbung der Jugend“ ein. Gegenüber 501 Richtern, welche alles Vertreter des damaligen Volkes waren, blieb Sokrates Überzeugung von seiner Kritik nur ein Versuch. So war es nicht die Art Sokrates, wie beispielsweise üblich durch Vorzeigen von Frau und Kindern womöglich Mitleid zu erregen, sondern er legte seine Argumente für sein Handeln dar und wich dabei nicht von seinem Standpunkt ab.

Sokrates saß also in Gefangenschaft. In der Schrift Kriton (46b, 50a) des Platon findet sich, daß Kriton durch Bestechung der Richter Sokrates die Tür zur Freiheit öffnen konnte – wenngleich Sokrates nicht mehr in Athen hätte bleiben können. Mit dem Argument, seine Flucht brächte die Rechtsordnung ins Wanken, schlägt Sokrates die Freiheit aus und leert den Schierlingsbecher, um sich dann zum Sterben zu legen.

Die sokratische Dialogik des Fragens

„Ich weiß, daß ich nichts weiß!“

Sokrates?

Dieser Satz wird Sokrates oftmals in den Mund gelegt. Ob er dies wirklich jemals so gesagt hat, kann leider niemand mehr bestätigen. Man sollte jedoch überdenken, ob jemand wie Sokrates eine solche Aussage zugetraut werden kann. Nimmt man an, daß es wahr ist, daß Sokrates nichts weiß, dann kann er selbst das nicht wissen! Danach ist dieser Satz logisch einfach unmöglich, ein Widerspruch in sich. Vielmehr muß man versuchen eine sinnhafte Interpretation des Sokrates abzuleiten. Ohne weitere Worte kann hier auf die Apologie des Sokrates bei Platon hingewiesen werden .

Man erkennt, daß Sokrates lediglich feststellt, daß man sich nicht einbilden soll, über mehr bescheid zu wissen, als es wirklich der Fall ist. Indem er bemerkt, daß es Dinge gibt, mit denen er zwar im Gespräch umgeht, von denen er aber keine genaue Kenntnis ihres Wesens besitzt, wie z.B. über die Freiheit. Was ist Freiheit eigentlich? Zu wissen, daß man es eigentlich gar nicht wissen kann, ist schon ein Mehr an Wissen gegenüber denjenigen, die sich anderes einbilden. Das ist Sokrates . Für Sokrates ist eines jeden Handwerk (techne) eine Kunst (ars). Das handwerkliche Können im technischen Sinn bedeutet, daß man sich mit den Mitteln, mit denen man bei seiner Arbeit umgeht, auskennt. Über die Mittel selbst muß man aber nichts wissen.

So kann z.B. der Dichter über die „Schönheit“ schreiben oder diesen Begriff für sein Gedicht benutzen, aber er muß nicht wissen, was Schönheit ist. Ebenso ist der Jurist bei seiner Arbeit auf Rechtsbegriffe angewiesen, deren Inhalt sich ihm nicht erschließen kann. Hier ist beispielsweise der Würde- oder Freiheitsbegriff des Grundgesetzes zu nennen. Das kunsthandwerkliche Können des Philosophen ist bei Sokrates das dialogische Fragen und dieses Keim eines vernünftigen Gespräches. Dies stellt die (schon oben angesprochene) Suche nach dem Logos dar. Nichts ist, weil es so ist. Es gilt zu fragen, warum es so ist und dies im Gespräch, im Dialog, womöglich zu finden.

Der Dialog Laches bietet sich für eine nähere Betrachtung an: Die praktische Ausgangsfrage, ob die Söhne zum Fechtsmeister geschickt werden sollen, wird zum dialogischen Gegenstand: „Wozu schickt man die Söhne zum Fechtmeister?“ Es geht um die Frage der Tapferkeit, welche Sokrates zunächst aufgreift und damit aufklären will, ob man sich gegenseitig im gleichen Verständnis über den Begriff Tapferkeit befindet .

Dabei ist die Tugend oder Tüchtigkeit – arete – ein zentraler Begriff. Der wird unterschiedlich definiert; genau genommen entfaltet er seine Bedeutung je nach sozialer Herkunft und Stellung. Für Sokrates lagen die Tugenden in Selbstbeherrschung und Gerechtigkeit. Für seine Gesprächspartner Lysimachos und Melesias liegen die Dinge anders. Wir befinden uns bei der Darbietung eines Fechtmeisters, zu welcher Lysimachos und Melesias feststellen, dass sie selbst von ihren anderweitig beschäftigten Vätern vernachlässigt worden seien. Und zwar in dem Sinne, dass ihnen keine solche Fechtausbildung zuteil wurde. Daher meinen sie, ihren Söhnen eine solche Ausbildung im Fechten zukommen lassen zu müssen. Die Tugend dieser Ausbildung soll jene zu erfolgreichen politischen und militärischen Männern machen. Die Väter sind sich jedoch unsicher und fragen zuletzt Sokrates um Rat.

Dieser läßt die Anwesenden Älteren – Nikias und Laches – auf diese Frage antworten. Nikias verweist auf die Vorzüge der Fechtkunst, denn sie fördere die Tapferkeit. Laches dagegen meint, dass Fechtmeister selbst nie ausgezeichnete Kämpfer waren und für die Tugend der Tapferkeit nichts beitragen würden. Sokrates fragt, was beide denn unter Tapferkeit verstehen. Jetzt entfalten sich sokratische Dialoge, welche die konträren Standpunkte von Nikias und Laches offenbaren. Es empfiehlt sich, diesen Dialog hier nachzulesen.

Sokrates Dialoge enden immer mit aphoretischem (auswegslosem) Ausgang. Er ist nicht auf der Suche nach Definitionen, sondern nach allgemeinen Kriterien einer Sache, wie der Tapferkeit . Das bedeutet nicht zugleich die Ergebnislosigkeit sokratischer Dialoge. Vielmehr werden die allgemeinen Kriterien, die auch gefunden werden, zu einem „Leitstern“ richtigen Verhaltens.

Sokrates war ein Philosoph der Tugenden. Sein dialogisches Fragen führte zur notwendigen Beschäftigung mit den sonst einfach dahingenommenen Gegebenheiten des Lebens. Wer Gespräche mit ihm führte, mußte womöglich gequält durch innere Rat und Rastlosigkeit nach Hause gegangen sein, ständig sich selbst fragend, was es denn sei, das man gesucht hat. Denn man wurde von Sokrates auf einen Weg gebracht, der eine Suche und damit ein ständiges Fragen nach was und wozu darstellte. Dies führt zwangsläufig zu Kritik an den Dingen von innen heraus. Oder ist Kritik etwas anderes, als Hinterfragen des Gegebenen? Darüber haben wir uns, liebe Leser, nicht verständigt.

Gerechtigkeit

Was ist Gerechtigkeit für Sokrates? Ganz in seinem Sinne, können wir auf einen von Platon niedergeschriebenen Dialog Sokrates mit drei Parteien zurückgreifen: Den sogenannte Thrasymachos-Dialog.

Thrasymachos argumentiert, dass Gerechtigkeit nichts anderes sei als das Interesse des Stärkeren. Nach seiner Auffassung schaffen die Machthaber in jeder Gesellschaft Gesetze zu ihrem eigenen Vorteil; Gerechtigkeit bedeutet demnach, diesen Gesetzen zu folgen. Er behauptet, dass es für den Einzelnen vorteilhaft sei, ungerecht zu sein, solange man die Macht hat oder den Anschein der Gerechtigkeit wahren kann. Thrasymachos sieht also in der Gerechtigkeit ein Mittel zur Aufrechterhaltung der Macht und der sozialen Ordnung, nicht aber einen intrinsischen Wert oder eine Tugend.

Sokrates widerspricht Thrasymachos‘ Definition der Gerechtigkeit. Durch eine Reihe von Fragen und Argumenten versucht er zu zeigen, dass Gerechtigkeit nicht einfach das Interesse des Stärkeren sein kann. Sokrates argumentiert, dass Gerechtigkeit vielmehr im Interesse aller liegt, da sie zur Harmonie und zum Wohlstand innerhalb der Gemeinschaft beiträgt. Er stellt die These auf, dass eine Gesellschaft, die auf Ungerechtigkeit basiert, instabil ist und letztlich zum Zusammenbruch führt. Für Sokrates ist Gerechtigkeit eine grundlegende Tugend, die es den Individuen ermöglicht, zusammenzuleben und gemeinsam zu handeln, zum gegenseitigen Nutzen aller.

Im Verlauf des Dialogs entfaltet Sokrates eine komplexere Sicht auf Gerechtigkeit, die über die einfache Befolgung von Gesetzen hinausgeht. Er argumentiert, dass wahre Gerechtigkeit in der Harmonie der Seele eines Menschen liegt, wo Vernunft, Mut und Begierde im Einklang stehen. Diese innere Ordnung und Harmonie führt dazu, dass ein Mensch gerechte Handlungen ausführt, nicht weil er dazu gezwungen wird oder es ihm äußerlich vorteilhaft erscheint, sondern weil es seiner wahren Natur entspricht.

Der Dialog zwischen Thrasymachos und Sokrates zeigt somit zwei grundlegend unterschiedliche Auffassungen von Gerechtigkeit: eine äußerliche, von Macht und Eigeninteresse geleitete Sichtweise und eine innere, auf Tugend und das Wohl der Gemeinschaft ausgerichtete Perspektive. Durch seine Argumentation legt Sokrates den Grundstein für eine tiefere Untersuchung der Gerechtigkeit, die den gesamten Verlauf der „Republik“ prägt.

Ertrag

Was hat nun Sokrates mit Recht zu tun? Nehmen wir den Begriff der Gerechtigkeit. Kann man ihn definieren? Für den, welcher (über) Sokrates gelesen hat, lautet die Antwort mit Sicherheit nein. Man kann nur nach allgemeingültigen Kriterien suchen, die Verhalten gerecht machen. Treffend ist daher das Beispiel des Leitsternes: Wenn man nachts auf dem Weg zum Haus der Großmutter durch den Wald gehen muß, sollte man sich zur Wegsuche eines feststehenden, verläßlichen Punktes bedienen. Man kann in den Himmel schauen und orientiert sich am Nordstern. Der Nordstern ist jedoch nicht das Ziel, welches man erreichen will oder kann – das ist das Haus der Großmutter. Soweit Gerechtigkeit als Begriff einen Leitstern für menschliches Handeln ausmacht, sind ihre Kriterien immer wieder im Dialog zu finden.

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