Nehmen wir mit Greg, oder Gregor. Greg nennen ihn nur die Leute in der schicken Wohnanlage mit Schranke vor der Einfahrt. Gregor hat eine Weile auf der Strasse gelebt. Das war nicht einfach passiert — es war ein Prozess. Anfangs war er bei Tanten und Großtanten aufgeschlagen, um ein paar Nächte zu verbringen. Er hatte es nicht lange ausgehalten. Seine Klarheit darüber, wie entfremdet die Familie sein kann, ließ ihn sein Zeug packen und abhauen. Zu Freunden, wo er vorsichtig war, weil er das Gefühl hatte, freundlich sein zu müssen. Weil Freunde eben doch keine Familie waren. Es zog innerlich an ihm, wenn er ihnen etwas Lockerheit vorspielte. Er sei nur gerade in der Gegend. Das ging natürlich nicht lange gut, denn wieviele Nächte kann man „in der Gegend” sein?
Freunde und Freundlichkeit sind zwei ähnliche Begriffe — aber nicht das Selbe. Also kreisten Gregs Geschichten immer weniger darum, seinen Freunden keine Unannehmlichkeit zu bereiten. Er hatte Angst diese unmerklichen Bewegungen zu bemerken, ein Augenreiben, ein nachdenkliches Kopfkratzen und am schlimmsten, wie die Köpfe sich schnell zu ihm drehten, nachdem man Blicke ausgetauscht hatte. Eine Kommunikation, von der er ausgeschlossen war. Draußen.
Ein, zweimal hatte er eine Renovierung der Wohnung vorgeschoben, die er eigentlich nicht mehr besaß. Er kam dem Kern der Sache näher: Eigentlich war gelogen. Er war obdachlos. Sein Problem war, dass er keine Freunde besaß, die bereit waren, wirklich freundlich zu sein. Ehrlichkeit ist eben schwer, denn sie besteht aus mehr als aus Worten. Gregor brachte den Mut nicht auf, sich zu entblößen.
Der einzige Freund, der ihn ausgehalten hätte, war tot. Vor einigen Jahren gestorben. Ralf hatte es nicht einfach. Sein Vater benahm sich wie ein verrückter Armeespieß, es hagelte gelegentlich Ohrfeigen, es wurde gehorcht, Mutter schwieg, Großmutter war eine „Hexe”. Als flaumbärtiger Lump, als er auf dem Moped saß, war die Sache anders. Vorbei mit Gehorsam. Der Alte konnte ihn mal. Aber die Probleme rissen nicht ab. Vom Moped zum Motorrad, das brach ihm alle Knochen. Zuletzt hatte seine Mutter ihn alleingelassen mit seinem Vater. Der lag seit einigen Jahren im Pflegeheim und wurde gewindelt. Und so weiter jedenfalls. Ralf wußte, was Freunde wert sind, aber deswegen war er nicht freundlich.
Für Gregor war Ralf ein zäher Bursche. Hartes Fleisch —tough meat. Mit einem Leben ohne Feierabend immer im Kampf. Aber mit Tagen voller Festen, Drogen und Freunden. Gregor hatte über die Zweideutigkeit der Freundlichkeit nachgedacht. So genau ließ sich die Grenze zwischen rechter und falscher nicht ausmachen. Gregor hatte zwei Jahre Zeit darüber nachzudenken. Sein Urteil war ungefähr: Dort, wo Verlogenheit anständig wird. Dort, wo die wohlgenährten Bäuche sind. Die — und das wußte Gregor damals nicht — sich nie Feierabend gönnten. Er hatte keinen Neid oder gar Hass für die anderen, welche an ihm vorbeiliefen und vorbeifuhren. Er spürte bei ihnen oft Angst und die Erschöpfung durch sie. Man schlug prätentiöse kleine Bogen um ihn, lächelte ihm entschuldigend zu, zuckte mit den Achseln. Manche waren dermaßen erschöpft vom Leben, dass sie ihn in die Rippen traten und bespuckten.
Das alles, weil sie weiches Fleisch geworden waren. Unfähig, außerhalb einer Ordnung zu leben, die klare Rollen und Pfade definierte. In der alles quantifizierbar war, wie der Erfolg. Woran sollte man sich sonst messen?
Wie Linda Gregor von der Straße geholt hatte, ist eine interessante Geschichte. Aber für Greg, wie man ihn nun nannte, war sie eine schöne und blasse Erinnerung, die er kaum noch hervorholte. Es ging ihm gut. Also konnte er auch die anstrengenden zwei Jahre davor wegwischen. Er und alles um ihn herum war sauber, domestiziert und vor allem privat. Alles im Leben war funktional: Regenjacke, Windjacke, Hosen, Sonnencreme, einen Liegestuhl und den Tisch, an welchem man nicht ganz bequem aber aufrecht saß. So wird gegessen und nicht auf dem Arsch in einer dreckigen Ecke liegend. Alles war wieder Möglichkeit.
Diese Möglichkeit schöpfte Greg voll aus. Jeder in der Wohnanlage wußte von seiner Vergangenheit. Seine Position als Stiftungsleiter ließ das Gerede hinter seinem Rücken aber zu einem vorsichtigen Murmeln werden. Es war unvorstellbar, wie So Jemand in stinkenden Klamotten auf dem Bordstein gammelte. Inzwischen auch für Greg. An einem dieser gediegenen Esstische saßen sie an jenem Abend als sich Gregor zu Greg gesellte.
Sabine stand die gerade abseits unterhielt sich. Rainer, drehte sich zu Greg und brummte vernehmlich, die Sabbel erzähle viel und gerne. Aber Sabine schien nichts gehört zu haben. Als Rainer in der selben Tonlage erklärte, dass sich die Sabbel allerdings gut auskenne, drehte sich ihr Kopf und konnte sich ein ein schrilles Auflachen nicht verkneifen. Sie bog sich nach hinten und rief, dass sie es ja immer schon gesagt hatte. Kicher kicher.
Was, wenn in Rainers Stimme Sarkasmus mitschwang? Greg verlor sich in Gedanken und Gregor tauchte auf. Hatte Sabine so gelacht, als sei sie ertappt worden? Hatte sie gelacht, aus Angst davor, dass man ein unleugbares Muster an ihr erkannt hatte, das ihre Fiktion als Misses Allwissend entlarvte? Alle Bemühungen, dieses kompetente Bild aufrecht zu erhalten, würden scheitern, wenn jeder erkannte, dass sie es gernesein wollte aber eben nicht war. Aus Angst vor dem Urteil der anderen galt es als Schwäche, sich preiszugeben. Weil die Wirklichkeit in den Augen dieser Leute hier ja so verdammt anders war und Träumerinnen verletzliche Wesen. Weiches Fleisch.
Greg wurde aus dem Gedanken gerissen. Hans balancierte zwei große Weinschoppen über das am Boden verstreute Kinderspielzeug. Er versuchte sich an seiner cremefarbenen Lounge vorbei zu schlängeln. Das misslang, denn die Lehne blockierte seinen Bauch. Nicht dass er fett gewesen wäre — er schnaufte nicht, aber er versuchte tatsächlich feenhaft durchzukommen. Mit mildem Entsetzen erinnerte sich Hans an die Flecken auf Sofa und Teppich, deren Entfernung beim letzten Mal einige Anstrengung gekostet hatte. Salz dachte er und spürte ein leichtes Kribbeln auf der Kopfhaut. Greg beobachtete als Einziger, wie Hans den Mund verzog und Geräusche zu seinen ostentativen Verrenkungen fabrizierte. Hans glaubte, alle Augen seien auf ihn gerichtet und lieferte ab. Das volle Programm eines Schauspielers der den Ruhm sucht. Weiches Fleisch.
Am Esstisch saß Roland mit verschränkten Beinen, sein Kopf auf drei Finger gestützt. Er hatte sich zu seinen Kindern gedreht und nölte irgendetwas. Seine Frau, eine dürre aber irgendwie attraktiv wirkende Blondine, kniete sich vorwurfsvoll zu den Sprösslingen und hob Spielzeug vom Rasen auf. Sanne! rief Rolf genervt. Anstoßen erfordert Disziplin. Man will ja niemanden warten lassen. Rolf war in diesem Moment jedenfalls tough meat. Ihm war scheißegal, ob die anderen seine Verärgerung bemerkten. Aber sie war für jeden in der Runde gedacht. Als gemeinsame Empörung darüber, dass ihm sein Auto geklaut wurde. SUV, glänzend, kraftvoll, teuer. Doch nur der nächste Schauspieler.
Und so setzte Rolf alles daran, seinen Unmut auszubreiten, um eine tragfähige Mehrheit der Verstimmten zu erreichen. Er hatte schon mehrmals eingeschoben, wie teuer die Karre gewesen war. Niemand hatte explizit danach gefragt. Umso wirkungsvoller, dachte sich Rolf, weil eine Barriere gebrochen war — man sprach nicht über Geld. Und wenn, dann um zu zeigen, wie das Schwerverdiente von allen Seiten Bedrohungen ausgesetzt war.
Diese elenden Arschlöcher waren bestimmt Albaner, Rumänen oder Russen gewesen. Obwohl, so meinte Hans, die Russen ja genug Schotter hätten, eher die Polen, obwohl die ja inzwischen schon größere Autos fuhren als… Rolf ließ sich nicht ablenken. Der Kern der Sache war, dass man nicht mehr sicher sein konnte. Die Schranke war brachial ausgehebelt und der SUV irgendwie elektronisch geknackt worden. Respekt immerhin dafür, dass andere Geschick hatten, das einem selber abging.
Sanne setzte sich an den Tisch und hob das Glas. Rolf spitzte den Mund als unterdrückte er etwas, atmete laut aus und hob seines. Als die Gläser abgesetzt wurden begann Susanne zu reden. Die Schranke wäre ein Kostenfaktor, den alle zu tragen hätten. Um eine Versammlung komme man nicht herum. Was sie nicht aussprach war, dass ihr das Auto egal war. Rolfs Gemütszustand war das einzige, was zählte. Er brachte als Arzt das Geld nach Hause. Susanne war nicht geldgeil oder ängstlich, mit ihrem eigenen auskommen zu müssen. Sie hatte das dumpfe Gefühl, es gäbe nichts besseres für ihre Kinder als Sicherheit. Dass das Essen auf dem Tisch stand, dass für die Ausbildung gesorgt war, dass es Möglichkeiten gab. Die hatte sie nicht gehabt. Mit Sechzehn aus dem Elternhaus, heimliche Abtreibung, Couchsurfing, Parties, große Träume. Der übliche Unsinn eben. Jetzt war Verantwortung an der Tagesordnung.
Greg war sich nicht sicher bei Sanne. War sie tough meat, weil sie diese Rolle der Ehefrau zum Gefallen Rolfs ausfüllte oder der Mutter in Sorge um ihre Kinder? Vielleicht war es die Tatsache, dass sie ihr früheres Dasein als unsinnig ansah und sich mit der Verantwortung, die dies Lüge mit sich trug, geißelte. Sanne, der die Reaktion auf ihre Ausführungen nicht genügten steigerte sich hinein. Man kann sich nicht mehr sicher fühlen. Nicht einmal im eigenen Zuhause! Ja, sie fühle sich regelrecht ver-ge-wal-tigt! Hans nickte nachdenklich.
Greg hatte sein Urteil gefällt: Susanne war kein tough meat, sie hatte Schiss, sie funktionierte nur. Im selben Moment trat Linda durch die Tür. Sie setzte sich und beanspruchte eine gewichtige Pause, indem sie eine Zigarette ansteckte. Es war klar, dass sie etwas zu sagen haben würde. Sie nahm einen Zug und blies langsam aus. Mach mal halblang! Bevor Sanne entgegnen konnte, beugte sie sich vor. Wir reden von einem Auto! Und ein Auto sei ja wohl nicht gleichzusetzen mit Vergewaltigungen. Hans nickte wieder und fiel dazwischen. Vermögensdelikte seien mitunter schwerer bestraft als Körperverletzungen. Was Linda stirnrunzelnd dahin drehte, dass in dieser Gesellschaft eben alles auf dem Kopf stehe. Dass man die Prioritäten aus den Augen verloren hätte.
Welche Prioritäten wären das? fragte Sanne mit funkelnden Augen. Auf Rolfs Gesicht legte sich entspannter Stolz und er schaute von der Seite auf seine Frau. Linda zog an ihrer Zigarette. Als sie den Mund öffnete kam eine leise Stimme heraus, die nicht ihre war. Einige Meter entfernt stand zitternd eine junge Frau.
Sie sah mager aus, hatte eine aufgeplatzte Lippe. Sie sprach vorsichtig ins Schweigen hinein. Sie brauche Hilfe. Rolf sprang auf und ging eilends zu ihr. Sie krümmte sich leicht, weshalb Rolf sich zu ihr herunterbeugte, die Hände auf die Knie gestützt, und fragte, ob alles in Ordnung sei. Woher sie komme (Gregor hörte: Wie bist du hereingekommen?) Die Frauen näherten sich vorsichtig. Sanne hatte die Hände vorm Mund, Linda hielt dem Mädchen ein Glas Wasser hin.
Als Gregor den lang ausgestreckten Arm seiner Frau sah, spürte er den Abstand, der zu jemanden gehalten wurde, der aus einer anderen Welt stammte. Er spürte die Furcht seiner Frau davor, irgendwie in die Verantwortung gezogen zu werden, sich kümmern zu müssen. Nicht mehr privat zu sein. Weil man sich nicht auch noch um andere sorgen könne. Er spürte diesen bedrohlichen Abgrund in den man zu fallen drohte, wenn sich niemand um einen sorgte. Wenn nur der aufflackernde Anstand handelt, um in Wirklichkeit jemanden so schnell wie möglich an andere weiterzureichen. Greg war in diesem Moment von zwei Seelen ergriffen. Die eine war ganz nahe bei der jungen Frau, die andere verbarg sich hinter den Mauern mit der demolierten Schranke.
