Wie steht es mit dem Rechtsstaat?

Rockabillys im Tanzcafe LiBella, Altenmarkt an der Alz, Februar 1997 | Von Andreas Bohnenstengel, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=49673663
Die Forderung des Innenministers, Strafen zur Abschreckung heranzuziehen, sind tiefster Populismus und strafrechtstheoretischer Unsinn. In Deutschland wird das Strafrecht noch immer weitgehend vom Gedanken der Resozialisierung getragen. Die Aufklärungsquote, nicht das Strafmaß bestimmt die Effektivität des Rechtsfriedens und der Ordnung im Land. Der populistische Weg führt ultima ratio zurück zur Todesstrafe, deren Abschreckungswirkung empirisch nicht belegt ist. Mit anderen Worten: Affektgetriebene Taten werden weiterhin stattfinden.

Zunächst muß man vorsichtig sein, die Geschehnisse von Stuttgart einordnen zu wollen. Dort gab es am Wochenende Krawalle, denen Polizisten und Schaufenster zum Opfer fielen. Wobei Baden Württembergs Ministerpräsident offenbar eine klare Überzeugung von den Motiven der Täter hat:

„Das sind junge Leute mit einer hohen kriminellen Energie — die haben sich unter die Partyszene gemischt […] Das sind junge Leute, die gegen den Staat eingestellt sind.“

(ZDF Interview, 22.06.2020)

Da werden vorsichtig Korrelationen hergestellt: Black-Lives-Matter und die Polizeigewalt in den USA, wonach Anfeindungen gegenüber Polizisten auch in Deutschland zunehmen. Denken Menschen wirklich so indifferenziert? Es wird die Corona-Krise naturgemäß als causa heranzgezogen. An allem ist zumindest das Virus mitschuldig. Das könnte stimmen, wenn man es mit allgemeiner Vorschriften-Müdigkeit des Lockdowns erklären wollte. Als ehemals männlicher Jugendlicher kann ich selbst berichten, dass der grundsätzliche Drang zur Destruktivität besonders in diesem Alter ausgeprägt ist und durch gefühlte Beschränkungen pressierend wird. Schlägerei, Zerstörungswut wachsen aus überschießender Energie der Jugendlichen, deren Absichten allerdings nicht per se staatszersetzend sind. Im Buch „Kollektive Gewalt in der Stadt: Europa 1890-1938“ lassen sich Parallelen der „Halbstarken-„Bewegungen und ihr Clash mit der Polizei gut nachlesen.

Kretschmer redet von „jungen Männern“, die nicht mit „in unsere Demokratie, in unserer Lebensweise […] integriert sind“. Wobei das mit der Lebensweise schwierig ist. Kretschmer hat „nicht glauben können, dass solche Bilder aus Stuttgart stammen“. Wieso? Was unterscheidet Stuttgart von Detroit?

Man kann einem alten weißen Mann, der arriviert ist, nicht vorwerfen keine Erinnerung an seine Jugend zu haben. Damit sollen die Ausschreitungen in Stuttgart keineswegs heruntergespielt werden. Nehmen wir den Bundesinnenminister Seehofer beim Wort: „Strafen seien das beste Mittel an Prävention„, wird klar, wieviel Gewicht dieses Thema gegenwärtig bekommt. Man deklariert randalierende Jugendliche als Staatsfeinde und fordert „harte Strafen“ anstatt Polizei und Justiz einfach ihre Arbeit machen zu lassen.

Die Forderung des Innenministers, Strafen zur Abschreckung heranzuziehen, sind tiefster Populismus und strafrechtstheoretischer Unsinn. In Deutschland wird das Strafrecht noch immer weitgehend vom Gedanken der Resozialisierung getragen. Die Aufklärungsquote, nicht das Strafmaß bestimmt die Effektivität des Rechtsfriedens und der Ordnung im Land. Der populistische Weg führt ultima ratio zurück zur Todesstrafe, deren Abschreckungswirkung empirisch nicht belegt ist. Mit anderen Worten: Affektgetriebene Taten werden weiterhin stattfinden.

Die politische Linie ist nicht überraschend, denn eine bis dato funktionierende Ordnung versucht, sich selbst aufrecht zu erhalten statt sich fundamental in Frage stellen zu lassen. Wenn man Stuttgart verkürzt auf Wohlstand durch Mercedes Benz herunterreduziert, eröffnet sich ein Abgrund, den die Stadt und ihre Ordnung mit den Profitaussichten des Konzerns teilt.

Politiker können Geschehnisse wie die in Stuttgart nicht einfach als solche stehen lassen. Denn die Gefahr liegt im Verlust des allgemeinen Sicherheitsgefühls, dem Vertrauen in die Sicherheit im Staat durch den Staat. Dieses Sicherheitsgefühl ist Garant von Stabilität, welche staatstragend ist. Die Auswirkungen einer nicht mehr wachsenden Ökonomie, drohender Arbeitsplatzverlust und die generelle Unsicherheit durch fehlende Wertesysteme machen demokratischen Strukturen zu schaffen. Aber warum gerade in Stuttgart, einer der reichsten Gegenden nicht nur Deutschlands? Genau das ist doch die Frage, die sich Winfried Kretschmer stellt. Die Gewalttätigkeit mag mit den Auswirkungen von Covid-19 korellieren, was zu beweisen wäre, doch die Randalierer haben sich in diesem Fall erfolgreich gegen die Ordnung gewandt. Das Problem ist nicht in der ideologischen Auffassung der Täter zu suchen. Es ist ein systemisches — genauso, wie die brüchige Ideologie der Politiker, durch Wachstum Stabilität erzeugen zu wollen. Dieser Zug ist sprichwörtlich abgefahren. Auch in Stuttgart.