Wie lange lebe ich noch? Habe ich mich jemals ernsthaft gefragt? Sobald junge Menschen diese Frage stellen, beginnen sie, alt zu werden – egal, was ihr Kalender sagt. Dass das Leben kurz sei ist eine Binsenweisheit. Betrachtet man das Leben als einen weißen Abschnitt auf einer unendlich langen schwarzen Linie, begegnet uns die Furcht vor seinem Ende, je mehr wir uns auf Abstand begeben. Aus der weißen Linie wird ein Punkt, der irgendwann verschwindet. Wo wir heute so gut geworden sind, rational zu denken, müssten wir aus diesem simplen Bild die Furcht entwickeln, das Leben zu verpassen. Aber die FOMO – fear of missing out – ist ausgehöhlt, wie unsere Vorstellung von Freiheit.
Die Angst vor der Erkenntnis, das Leben nicht auszuschöpfen, führt dazu, sich in Schneckenhäuser und konzentrierte Weltanschauungen zu flüchten. Möge die Angst uns Scheuklappen aufsetzen!
Uns Angst und damit Streß in unser Leben zu holen, hat mehr Gewicht als die Utopien, die Träume, die Wagnisse. Denn Angst hat man nicht vor seinen Träumen, weil sie niemanden „etwas antun“. Angst hat man vor den kleinen Dingen des Lebens, den Ausfällen von Hypothek, vor mangelnder Arbeit, vor schwindender Gesundheit oder schmelzendem Vermögen. Alltägliche Sorgen sind begreifbare, konkrete Furcht, deren Konsequenzen uns ständig vor Augen geführt werden: Die Zinsen bei Rückstand, das Ausgeliefertsein gegenüber Gläubigern. Davor, kein Dach über dem Kopf oder bei den Tafeln essen zu müssen, hat man panische Angst; aber in Panik lässt man sich nicht versetzen. Alltäglichkeit genügt, um Träume und existentielle Angst gleichwohl auszublenden.
Also tun wir, was getan werden muß, um dieser existentiellen Angst nicht ausgesetzt zu sein. Wir gehen soweit, die Eventualitäten, Opfer von Unfällen, Vergiftung, Überschwemmungen, Bränden oder Missernten zu sein, völlig auszublenden. Deswegen setzen uns existentielle Bedrohungen wie Covid-19 stark zu; und sei es nur, weil man die Macht des Staates zu spüren bekommt, der sich plötzlich in die Privatsphäre einmischen will.
Wir wollen nicht erinnert werden, nicht in Kontrolle zu sein. Weder über Pandemien, noch über die Polizei. Hier liegt unsere elementare Angst: die Kontrolle zu verlieren und der Welt vertrauen zu müssen. Dieses gegenwärtige Paradigma ist kein Naturzustand. Es ist nur eine von vielen Definitionen von Mensch-Sein und hat sich mit unserer Hybris, durch Vernunft in Kontrolle sein zu können, zum Müssen verwandelt. Wir müssen nur sterben.
Solange wir rational denken, gibt es keinen anderen Sinn außer dem des Beschäftigt-Seins mit Alltäglichkeiten. Selbstwirksamkeit und Kontrolle fordern immer beschäftigt zu sein, damit sie beruhigend in Erscheinung treten können. Sie geben uns eine weitgehend verlässliche Kontrolle und genügen dem, der das Leben homöopathisch aufnimmt.
Deshalb waschen die Wellen der Mode, die Trends und die permanenten „Aufreger” über uns hinweg und wir lassen es zu. Weil wir uns als eigen-willentlich und autonom begreifen müssen, um der Angst vor einer eingebildeten Hilflosigkeit zu entgehen, der Zuversicht zum Leben selbst. Statt immens aufleuchten wollen in dieser kurzen Lebenszeit, umfasst unsere fear of missing out nicht das Leben an sich. Statt Angst zu haben, nicht gelebt zu haben, sind wir kleinlich, fokussiert und sehnsüchtig nach kontrollierbarer Angst. Um uns dafür zu rechtfertigen, in den Mauern des Alltäglichen zu leben.