„Die müssen weg, die Leute!“ – wohin mit Sexualstraftätern?

Und dann traf er auf Udo. Udo, der für sein Leben gerne Gummitiere aß – am liebsten mit Erdbeer- oder Kirschgemschmack. Udo, dreiundfünfzig, der dann aussah wie ein Schuljunge, wenn er an den Süßigkeiten lutschte. Manch einer hätte gesagt, daß Udo eine Seele von Mensch war: ruhig, zuvorkommend, freundlich. Nur bei Feiern saß er meistens abseits, wenn die anderen sich vollaufen ließen und lächelte hin und wieder. Ein mattes aber warmes Lächeln.
Bis zu dem Tag, als man herausfand, daß Udo einige Jahre eingesessen hatte. Er hatte Kinder betatscht hieß es.

Und so kam es, daß sich Udo in seiner kleinen Wohnung verkroch und er, Bernd, nicht wußte, was er machen sollte. Ein oder zweimal unternahm er den Versuch, Udo zu besuchen – nach Einbruch der Dämmerung, doch er machte dann schon an seiner eigenen Haustür kehrt. „Das gibt’s doch nicht!“ hieß es allerorts und sie schüttelten ungläubig den Kopf. Jeder im Ort wußte, daß Bernd und Udo befreundet waren. „Wer hätte das gedacht. Konnte man ja nicht wissen…“ wurde Bernd entgegengebracht – eine Entschuldigung, die man ihm als seine eigene aufdrängen wollte. Irgendwann nahm Bernd sie an und benutzte sie. Wie hätte er es denn wissen können? Die Stimmung im Ort schlug um in unverhohlenen Haß: Zuerst über den Betrug, daß Udo niemandem von seiner Vergangenheit berichtet hatte – denn das macht man nicht unter Freunden, das ist unanständig – später malte man sich aus, wie er Unzucht betrieben hat, krank und pervers. Daß Udo sich verkroch, machte alles nur noch schlimmer. „Seht, wie er sich schämt! Zu recht!“
Bald hieß Udo nicht mehr Udo, er war der Sexualstraftäter, dann das „Dreckschwein“, das „Tier“. Da die Menschen kurze, prägnante Wörter mögen – vor allem solche, in die sie ihre ganze Emotion hineinlegen können, wurde „Tier“ Udos neuer Name.

Dieses Fragment war meine zweite Überlegung, als ich die Reportage auf ZDF sah, die sich mit dem Thema der Resozialisierung von Sexualstraftätern auseinandersetzte. Genaugenommen, mit einem Aspekt davon: Wenn solche Menschen wieder in die Freiheit entlassen werden. Ein Dorf in Sachsen, eine Nachbarschaft in Hamburg werden gezeigt; der Titel: „Ein Dorf in Aufruhr“.
Bürger versammeln sich zwei, dreimal pro Woche vor den Wohnungen ehemaliger Sexualstraftäter, demonstrieren, pfeifen, brüllen – sie wollen solche Menschen nicht in ihrer Gemeinde.

„Wer Taten nicht kontrollieren kann hat das Recht verwirkt in eine Gemeinschaft integriert zu werden.“

Da frage ich mich, wo die Dame diesen Spruch aufgeschnappt hat. Und vor allem, ob sie über seine Konsequenz nachgedacht hat. Ich führe den Gedanken mal für sie weiter: Menschen mit pathologischer Zwanghaftigkeit oder vordergründlich unterbewußten Handlungsantrieben sind demnach eine Gefahr für die Gesellschaft, da ihre Taten – gut oder schlecht – nicht voraussehbar sind. Es gibt keinen Platz für diese Unsicherheitsfaktoren, also müssen sie a) für immer eingesperrt oder b) auf eine einsame Insel verfrachtet oder c) hingerichtet werden. Mit diesen Gedanken kann man nur an der Oberfläche kratzen, denn neue Frage ergeben sich: Was ist mit Mördern, Dieben, Betrügern? Das ist ein Problem der Straftheorie und liegt jenseits dieses kleinen Artikels.

Die tatsächliche Gefahr sind Menschen wie die protestierenden Bürger selbst, der Mob, in deren Mitte sogar die Neonazis geduldet werden. Darauf angesprochen, rechtfertigen die Anwohner des Dorfes ihre Kollaboration mit den gemeinsamen Absichten. In dem Fall, ist eine Ausnahme zulässig. Wenn Ausnahmen Gesetz werden, landet man unversehens bei ungeschriebenen Maßnahmegesetzen eines einzelnen. Sogenannte „unbescholtene Bürger“ verbünden sich unter der Flagge des Hasses, projiziert auf ein mediengemachtes Feindbild: Sexualstraftäter. Das ist bezeichnend.

„Wer seine Taten nicht kontrollieren kann…“ Sind kontrollierte Taten nur solche der Vernunft? Wenn ja, dann fragt sich, wer die Taten der Bürger kontrolliert. Offenbar haben Axel Springer und Konsorten großartige Arbeit geleistet, um Sexualverbrechen zu promoten. Der Anteil der Sexualdelikte an der Gesamtkriminalität im Jahre 2010 betrug in Deutschland ganze 0.8 Prozent. Die gegenwärtigen strukturellen und gesellschaftlichen Probleme, welche jeden der demonstrierenden Bürger betreffen, finden keinen Platz wenn es um Kinderficker geht. Es gibt anscheinend nichts schlimmeres.

„Das ist das Ventil das die Menschen brauchen…“

sagt der Ortsbürgermeister von Bismarck. Ein weiterer Katalysator der Hetze und offenbar ein polarisierender Stammtischler. Das hintergründige Problem sind nicht die Sexualstraftäter, sondern das Vergessen der Menschenwürde, die Projektion der eigenen Ängste auf Minderheiten und die  Bereitschaft, ein Recht und Gerechtigkeit außer Kraft zu setzen. Aber eben nur nach Lust und Laune und Stimmung. Man wünscht niemanden, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden, doch sich zum hirnlosen Werkzeug der Medienindustrie machen zu lassen, ebnet den Weg zur eigenen Schlachtbank.