Fünfzehn Minuten

"Der Tod war Ertrinken. So hatte es oft ausgesehen. Er dachte an Fische, die an Land ihr Maul öffnen, um etwas einzusaugen, was ihre Kiemen nicht mehr konnten. “Nichts neues, nichts anderes…” Wie ein Student war er sich plötzlich vorgekommen. Wie Erstickungstode auszusehen haben, war jedem Mediziner bekannt. Doch kannte er niemanden seiner Kollegen, dem es nichts Neues gewesen war." Eine Geschichte über die Urteile, welche ein Arzt zu treffen hat, ihre Indikation und die Frage, wie weit Vernunft helfen kann.

Er war durch den langen Gang auf Flur drei geeilt. Er mußte einer Krankenliege ausweichen, die gerade aus einer Tür geschoben wurde. Der Blick der Schwester, die den Rollwagen schob, hatte seinen gekreuzt. Es hatte keine Entschuldigung darin gelegen, erinnerte er sich. Grußlos war er geblieben und leicht verärgert. War das wirklich so gewesen? Das war vorgestern oder am Tag davor. Er beschloß, sich nicht zu glauben, er konnte nicht über solche Lappalien verärgert gewesen sein. Scham war bei dieser Erinnerung in ihm hochgekrochen, mischte sich mit einem dumpfen Gefühl, welches er nun schon tagelang mit sich trug und das er nicht benennen konnte. 

Seit vier Minuten saß er in diesem kleinen Büro, auf einem Stuhl, wo sonst die Schwestern ihre Pausen verbrachten. Er war alleine. Wäre doch eine der Schwestern hier, wünschte er sich. Eine Minute ist eine lange lange Zeit geworden. Vier davon konnten Leben oder Tod bedeuten. „Nichts neues, nichts anderes…” hatte er sich eingeredet, als ihn dieses dumpfe Gefühl die ersten Male heimgesucht hatte. Sicher, er hatte seine Empfehlungen vor zwei Wochen noch aufgrund seiner ärztlichen Expertise abgegeben. Die Entscheidung, Palliativmedizin auszuüben war schon nicht leicht gewesen. Zu entscheiden, wann jemand sterben sollte war eine Frage des Wann, nie des Ob. Der Patient oder die Angehörigen hatten die letzte Entscheidung zu tragen. Er meinte damals, jene Angehörigen folgten dem Urteil des Arztes, seinem Urteil, was sie zu ihrem eigenen machten. Daß die Verantwortung mit seinem Urteil zu den anderen wandere, sich durch ein “ja” in Energie von Luftpartikeln verwandeln würde, in Wärme, die sich in Nichts auflöste. Als wäre dieses Ja zum Tod kein Nein zum Leben. Die Fakten sprachen jedenfalls gegen das Leben. Sie begründeten medizinische Indikation, Naturgesetz, jenseits der Macht eines Menschen. “Nichts neues, nichts anderes…” hatte sein Professor damals gesagt.

Er hatte sein Urteil über ein Menschenleben gebildet. Er war die Causa eines zeitigen Todes. Eine Zeit, welche die anderen festlegten. Das half gegen die Zweifel nichts, die ihn immer öfter beschlichen in den letzten Tagen. Wie lange hätte ein Leben ohne sein Urteil länger angedauert? Bestand nicht die kleinste Möglichkeit zur Genesung? Glaubte er nicht an Wunder? Auf diesem Stuhl im Schwesternzimmer saß er. Seit vier Minuten. In einer Minute, so war die Regel, würde er wieder seine Runde machen, intubieren, injizieren, protokollieren und entscheiden. Dieses dumpfe Gefühl war überwältigend geworden, ein Blei, das ihn auf diesem Stuhl hielt, seine Uhr anstarrend. 

Der Tod war Ertrinken. So hatte es oft ausgesehen. Er dachte an Fische, die an Land ihr Maul öffnen, um etwas einzusaugen, was ihre Kiemen nicht mehr konnten. “Nichts neues, nichts anderes…” Wie ein Student war er sich plötzlich vorgekommen. Wie Erstickungstode auszusehen haben, war jedem Mediziner bekannt. Doch kannte er niemanden seiner Kollegen, dem es nichts Neues gewesen war. Die  Neuankömmlinge ertranken sehr oft. Der Keller, die Sitzungssäle, die Lagerräume waren innerhalb weniger Tage zu Stationen umgewandelt worden. Mehr Ärzte wurden es nicht. Er entblößte seine Schwäche damals nicht vor den Pflegern. Sein Ego als Kapitän hatte der Teilnahme und die Teilnahme der Bewunderung Platz gemacht. Jeder einzelne in diesem Krankenhaus arbeitete ununterbrochen. Fünf Minuten, das war der Deal.

Anfangs waren es die Behelfsräume, wo sich dieses dumpfe Gefühl einstellte, sobald er sich auf den Weg machte. Dann kroch es schon am Eingang zum Krankenhauses in ihm hoch. Jetzt war es immer bei ihm, in ihm. Die Ambulanzteams senkten anfangs ihre Köpfe; inzwischen hielten sie sich aufrecht, als wollten sie ihm Last abnehmen. Sie warteten stumm auf die Ansage, wen sie in den Keller rollen würden. Es kamen manchmal vier, fünf Neuzugänge gleichzeitig. Fünf, von denen drei beatmet werden mußten, doch es war nur Platz für zwei. War einer zu alt, ledig, gut oder schlecht? Er hatte fokussiert. Medizinische Indikation, Fakten, Therapie- und Überlebenschancen. Es schien verlockend einfach, die Alte, die Schwachen auszusortieren. Doch war jeder, der alt war auch schwach? Und war Schwäche, was auch immer das bedeuten mochte, das Kriterium für Leben und Tod? Niemand beantwortete seine Fragen; er allein war Richter und Henker.

Die alte Dame in Zimmer 319. Sie hatte Glück gehabt, glaubte er, früh erkrankt zu sein. Glück, in ein Zimmer zu kommen mit einem Respirationsapparat. Ihr Zustand wurde zusehends akuter. Fröhlichkeit leuchtete aus ihren Augen, was ihn für sie eingenommen hatte. Als wäre das alles der Lauf der Dinge, nichts Neues, nichts Anderes. Diese Augen waren gestern geschlossen gewesen, ihr Atem nicht ihr eigener. Heute morgen fand er diese Augen geöffnet. Der Fröhlichkeit war traurige Zuversicht gewichen. Ihr Blick ruhte auf ihm, kurze Wimpernschläge legten Unsicherheit und Angst hinein, als wollte sie sein Urteil. Sein Herz pochte in seinen Schläfen. Bitte verlange kein Urteil! Sie griff seine Hand und sagte leise, sie wolle Platz machen, wolle nicht ertrinken. Sie hatte sich aufrichten wollen, er half ihr, entgegen seines Wissens als Arzt. Sie habe fünfzehn Minuten, sagte er leise. Dann wurde ihr ein Laptop hereingebracht. Die Verbindung herzustellen war eine Tragikkomödie. Sie hatten letzten Endes ihre Enkelin erreicht. Die alte Dame verabschiedete sich erst von ihm und dann von ihr. 

„Medizinisch indiziert” hatte er notiert. Er griff nach der Flasche mit dem Kräuterschnaps. Eine der Schwestern hatte sie hier deponiert. Kräuterschnaps war nicht so seins. Man mußte auskommen in dieser Zeit.