Major Tom: Die Konstruktion der Superlative

Es war in den Neunzigern als ein entnervter Peter Schilling von einer kleinen Dorfbühne verschwand und sein Konzert vorzeitig abbrach. Unter Buh-Rufen wurde er von seiner Stage verbannt, nachdem er zum dritten Mal den selben Song anfing: Major Tom. „Völllllig lohosgelöst, von der Eeeerde, flieeegt das Rauhauhaumschiff…“ Es war eben nur einmal ein richtiger Hit. Und die Leute wollten mehr. Peter, mit bürgerlichem Namen Pierre, Schilling hatte noch einen anderen Nummer-Eins Hit in den 1980ern. Er war zwar keine „One-Hit-Wonder“, doch aus diesem Zwischenfall in einem kleinen thüringer Dorf kann man so etwas wie eine konstruierte Absurdität entnehmen.

Was passiert mit jemandem, der an der Spitze seines Erfolges ankommt? Wo geht es von dort aus hin? Nun, es gibt keinen Platz in den Charts, der über die Nummer eins hinausgeht. Heißt das im Umkehrschluß, dass es für einen Peter Schilling nur nach unten gehen konnte? Die Alternative wäre Stagnation, also der Verbleib an der Spitzenposition, die im selben Moment zu einem Plateau wird. Stellen wir uns den Ausgangspunkt eines Popmusikers vor, der bei Null steht. Wäre sein Streben das nach der Spitze, stünde seine Arbeit im Zeichen eines Sisyphus: Der Sinn seines Dasein wäre das Erklimmen des Chart-Gipfels durch harte Arbeit. Ein Musiker hätte auf dem Gipfel seiner Karriere einen Nummer-Eins Hit und sinkt einige Zeit später in die unteren Ränge der Liste ab. Lassen wir for the sake of argument die Liebe zu Beschäftigung mit Musik außen vor und nehmen an, die Spitzenposition sei das alleinige Ziel. Dann hieße das, der Musiker müsste erneut Anstrengungen unternehmen, also einen neuen Hit produzieren, der ihn wieder auf Platz Eins bringt. Gelänge das, müsste der Person die Absurdität ihres Handelns klar werden: Seine Arbeit ist jener Fels, der immer und immer wieder in‘s Tal rollt und die Beschäftigung, ihn zum Gipfel zurück zu bringen, ist sein Dasein.

Aus dem Sisyphus-Vergleich ergeben sich einige weitere Gedanken. Einer davon ist der, dass die Spitze des Gipfels etwas Erstrebenswertes sei, was das Fels-Hinaufrollen zum Mittel zum Zweck macht. Die Beschäftigung wird damit sinnvoll, weil man der Gipfelposition einen Wert verleiht. Weil davon ausgegangen wird, dass hier ein Ziel liege, dessen Erreichen ein Glücksgefühl verursache. Wer sich mit dem Sisyphus des Albert Camus beschäftigt hat, wird entgegenhalten, dass die Erfüllung des menschlichen Daseins in der Tätigkeit liegt, in der Revolte, die man mit ihr zum Ausdruck bringt und weniger in irgendeiner Ankunft. Man könnte den Fels ebenso in das Tal rollen lassen, doch ist dazu kein Zutun nötig. Es wird kein Einfluss auf den Fels genommen, keine Anstrengung eingesetzt, keine eigene Selbstwirksamkeit an den Tag gelegt. Es spielt allerdings für die Beurteilung von Wert und Wertlosigkeit eine Rolle, ob man seine eigene Kraft einsetzt und damit etwas bewirkt. Nur was am Ende dieser Selbstwirksamkeit steht wird zum Wert. Und ist es das Streben auf Platz Eins in den deutschen Popmusik-Charts zu gelangen, gäbe man der Rangliste eine Bedeutung.

Pop-Charts sind, stellvertretend für alle übrigen Tätigkeiten des Menschen, die Konstruktion eine Gipfels. Wer ihn erreicht, erkennt, dass auf seiner Spitze der Wert verlorgengegangen ist. Es gibt keine Tätigkeit mehr, die zum Wert führen könnte; der Fels ist oben angekommen. Was bleibt, außer von vorne zu beginnen, abzusteigen und erneut den Felsbrocken zu schieben? Wer die Absurdität des Daseins an diesem Punkt nicht akzeptiert, wie Camus es verlangt, dem bleibt nur noch die Konstruktion. Ein neuer Gipfel muß her.

Was wäre, wenn man aus den deutschen Pop-Charts die „europäischen Popcharts“ macht und den Kreis der Teilnehmer erweitert? Dann folgen die „world-wide Popcharts“ und die des „Charts-of-the-solar-system“. Der Konstruktion von Superlativen sind kaum Grenzen gesetzt. Wir sehen es an allen Ecken und Enden, wenn aus „Top“ ein „super“ und aus „super“ ein „mega“ wird. Ob Waschmittel, Shampoo, Äpfel oder Schweineschnitzel: Die Konstruktion von Gipfeln ist grenzenlos, weil nicht nur ihre Höhe, sondern auch die eigene Position veränderbar ist. Vorgestern war der Apfel noch süßer, dann wurde er „bio“, heute ist er zudem klimaneutral. Wir verändern nicht nur die Höhe des Gipfels, sondern jedesmal unsere Position zu ihm. Was absurd anmutet ist eine neue Form mit Absurdität umzugehen, nämlich sie ignorieren zu wollen, indem man ihr selbst Absurdität entgegensetzt. Die Moderne ist voller Beispiele und aus ihnen folgt immer wieder das Gleiche. Nämlich die immerwährende Anstrengung jener, die der Absurdität entfliehen wollen und zugleich Opfer von absurden Konstruktionen werden.

Weil uns diese Superlativen und der immerwährende Wettbewerb um unsere Erfüllung tatsächlich umgeben, ist es nicht absurd, sich am Beispiel von „Major Tom“ und Popcharts entlang zu hangeln. Dass wir meinen, die Beschäftigung mit der Musik, der Kunst, der Literatur, dem Hobeln und Sägen an Möbeln oder Häusern sei an sich erfüllend, befreit uns nicht davon, die Absurdität des Daseins anzuerkennen. Erst dann sind wir frei, ohne konstruierte Werte um eines Zieles willens zu tun und zu sein.