Sind wir erschöpft durch Migration?

Achtzig Prozent der Deutschen seien laut Umfragen aufgrund der Migration erschöpft. Das hörte ich eben im Radio von einem CDU-Politiker. Das sehe ich anders. Vielleicht sind die Deutschen erschöpft von der ständigen Präsenz dieses Themas, das sich in ewiger Wiederholung in ihre Köpfe geprägt hat. Das Problem der Migration ist, auf Fakt und Zahle geschaut, geringer als das des Straßenverkehrs. Im letzteren starben 2023 über 2800 Menschen; und nie zuvor wurden mehr Fahrzeuge zugelassen als in jenem Jahr. Es fahren inzwischen über 48,8 Millionen Autos auf deutschen Straßen. Von den Problemen des globalen Kapitalismus, der Technokratie und Oligarchie wird politisch kein Thema so groß gemacht. Selbst der Krieg in der Ukraine scheint hinter der Bedrohung durch Ausländer zu verblassen.

Ob es wirklich die Mehrheit der Deutschen ist, welche Asyl und Migration ganz oben auf der Liste ihrer Probleme stehen haben, spielt zuletzt keine Rolle. Ständig wiederholte Botschaften werden vertraute Botschaften, weil sie sich einprägen – ob man will oder nicht. Ohne sich bewußt zu sein, werden immer mehr Deutsche Furcht vorm Asylanten haben oder vor dem „großen Ansturm“ auf Europa, der nicht nur passieren könnte, sondern der irgendwann als gesichert gilt.

Wenn Politiker die Politik als Bühne nutzen, um dem Volk Gedanken und Werte einzupflanzen, haben sie aus dem demokratischen Prozess auszuscheiden. Denn dann beginnen sie, sich zu verbiegen, um existent, um Dienstleister zu bleiben. Sie würde sich institutionalisieren. Eine solche Partei zu demontieren ist die notwendige Intoleranz der offenen Gesellschaft nach Karl Popper: Politiker sind gewählt, um Wählerwillen auszuführen, nicht um letzteren zu bilden. Die vox populi ist im strengen Sinn das sich selbst Organisierende zur Politik hin: Die Geburt politischer Parteien – und ihr Tod.

Im politischen Wahlkampf wird eine Prise Populismus und Demagogie bei jeder Partei zum Mittel. Es ist auf lange Sicht nicht demokratisch, geistige Verschlossenheit zu fördern, aber das ist ein Problem mit dem die Demokratie leben muss. Weil sie ihre Grundlagen nicht verteidigen kann, ohne selbst populistisch und dogmatisch zu werden.

Es geht nicht um Brandmauern zur AFD. Die frühe extreme AFD redete nicht nach dem Mund des Volkes – es war andersherum. Sie hat, wie alle traditionalistischen und inzwischen auch konservativen Parteien, verstanden, die allgemeine Unzufriedenheit zu kanalisieren. Ihre Vollendung liegt darin, Personen zu erziehen, die keine Wiederholung der immer gleichen Botschaft mehr hören können. Der perfekte Wähler des Extremen fordert Aktion, weil er politische Propaganda in sich aufgesogen hat. Ein Mensch, unfähig zur Selbstkritik an seinen Weltbildern. Die späte AFD redet nach dem Mund derer, die sie herangezogen hat.

Friedrich Merz‘ Anträge zur Verschärfung der Migrations- und Asylpolitik, wie dauerhafte Inhaftierung abzuschiebender Menschen, nationale Grenzkontrollen, etc. sind Versuch einer Aufholjagd: Merz wirft sich vor die AFD nach rechts in unser Sichtfeld und schreit, dass er die Probleme für uns lösen könne – so gut wie die Rechten. Diese Einfallslosigkeit lässt auf überkommene Ansichten schließen. Nämlich dass Einfluss auf Wähler bei Konkurrenz genommen werden muss und dass man zum politischen Überleben Mehrheiten halten muss. Aber um jeden Preis? Die klare Abwägung ist eine der Zahlen: Wenn es stimmt, dass jeder Fünfte im Land auf ultra-konservativen bis faschistischen Dogmen reitet, muss man sich dieser Dogmen annehmen. Merz tut das, weil er einsieht, dass er den von der AFD gekneteten Teig verarbeiten muss, um stark zu bleiben.

Der Preis, den die CDU bezahlt, ist hoch. Selbst wenn Merz glaubt, er sei der Retter der politischen Mitte, der Stimme der demokratischen Vernunft, ist er auf einem gefährlichen Pfad geraten. Sie wird nach ihrer Wahl gezwungen sein, ihre – für eine Union demokratischer Christen – absurden Versprechen einzulösen.

Dogmatische Programmatik, die auf reaktionärem Angst und Zorn der Bevölkerung reiten will, kommt nicht umhin, auf immer absurdere Probleme mit absurderen Maßnahmen einzuwirken. Irgendwann werden Mittel der Unvernunft (i.w.S.) zu Blitzableitern auf Scheinprobleme hin. Man fordert dann auch gerne andere Staaten heraus, um nach innen das zu leisten, was Gemeinschaft erzeugt.