Die egozentrische Freiheit

Wie eine Geschichte aus dem Sandkasten auf selbsternannte Widerständler passt und weshalb unser moderner Begriff von Freiheit ein egozentrischer ist.

Was hören wir heutzutage nicht allerseits die Freiheitsrufe, wenn es um “Maßnahmen zur Eindämmung” geht. Was eingedämmt werden soll, darüber herrscht im großen und ganzen Einigkeit: Es ist ein Virus, dessen Verbreitung an einem gewissen Punkt zu sozialer Instabilität führen kann, die jedwede Gesellschaft an ihren Grenzen führt.

Um welche Freiheit geht es denen, welche dasselbe Wort auf ihre Plakate schreiben, es als Schlachtruf skandieren und ihr eigenes Land als Diktaturen verschreien? Das Bild ist überall gleich: Österreich, die Niederlande, Belgien, Großbritannien, Kroatien, Deutschland. Diese Länder sind im Prinzip offene, freiheitliche Gesellschaften, was die Möglichkeit dieser Demonstrationen erklärt. Es erklärt jedoch nicht, weshalb oftmals die Demokratie als solche angegriffen wird, wenn sich die Freiheitskämpfer als Widerständler verstehen.

Ein Spielplatz. Fünf Kinder sitzen im Sand, jeder hat sein Spielzeug, der eine lädt Sand mit seinem kleinen Schaufelbagger in den Lkw des anderen. Man ist, ganz im Sinne Nietzsches, mit Ernst beim Spiel. Plötzlich schiebt sich ein Schatten über den Sandkasten. Die Kinder blicken auf, blinzeln gegen die Sonne und sehen eine hohe Gestalt, die tönt: „Gebt mir euer Spielzeug oder es setzt Schläge!“ Die fünf Kinder sind zunächst verwirrt, bis die ersten freiwillig ihr Spielzeug herausrücken. Nur ein einzelnes bleibt trotzig: „Das ist mein Spielzeug!“ schreit es und umarmt schützend seinen kleinen Spielzeugbagger. Die Überzeugungsversuche der anderen, das Spielzeug um des Friedens willen abzugeben, fruchten nicht. Die hohe Gestalt entreißt dem letzten Kind seinen Bagger und verpaßt allen fünfen eine Abreibung.

Die Metapher kann man erweitern: Es gibt ein sechstes Kind, welches zum Häuptling ernannt wurde. Als die drohende Gestalt erscheint ist der Häuptling jener, den diese anspricht. Dieser kleine Anführer steht nun zwischen der Bedrohung und den anderen Kindern. Er ist Vermittler. Er hat für seine Schützlinge zu entscheiden. Doch er kann niemanden in der Gruppe zwingen; er hat lediglich die Macht, die ihm die übrigen fünf Kinder gegeben haben. Nach kurzer Überlegung erkennt der Häuptling, dass es zur Herausgabe der Spielzeuge keine Alternative gibt, will man keine Tracht Prügel beziehen. Also bestimmt er, dass man der Gestalt gehorche. Doch das Kind mit dem Schaufelbagger bleibt wieder trotzig. Und es schreit seine Mitspieler an, sich dieser Ungerechtigkeit zu widersetzen.

Ist das Kind mit dem Schaufelbagger im Recht? Sicher doch: Es ist sein Spielzeug und es wäre ungerecht, es an irgendjemanden herausgeben zu müssen, weil jener mit faktisch größerer Macht (zu Gewalt) ausgestattet ist. Die Konsequenz dieses Gerechtigkeitsdenkens ist jedoch, dass die Gewalt des Fremden über alle sechs Kinder hereinbricht, ganz gleich, welcher von ihnen sein Spielzeug herausgegeben hat oder nicht.

Interessant ist zudem, was innerhalb der Gruppe der sechs Kinder geschieht: Das Kind, das sich gegen die Herausgabe seines Spielzeuges stellt, stellt sich zugleich gegen den gewählten Häuptling. Nicht die drohende Figur außerhalb des Sandkastens verkörpert die Ungerechtigkeit, sondern der eigene Häuptling wird zum Vermittler derselben. Es stellt sich ein Problem, das durch die „Theorie des kommunikativen Handelns“, wie sie Jürgen Habermas entworfen hat, nicht gelöst wird. Die Kommunikation in der Kindergruppe fährt sich fest, sobald man sich einer unausweichlichen Bedrohung fügen muss und gegen die innerhalb der Gruppe geltenden Abmachungen verstoßen muss. In diesem Fall garantiert die kleine Sandkastengesellschaft dem baggerfahrenden Kind sein Eigentum am Spielzeug. Sie wird zum Feind, dem Widerstand zu leisten ist. So simpel und kindischdas Bild der Sandkastengesellschaft scheint: Meinen Sie, es sei kindisch, auf sein Recht zu pochen, auch wenn die Gruppe dafür leiden wird?

Man kann sich ausmalen, auf welche Weisen sich der Widerständler zu wehren vermag: Er erinnert die anderen an die eigene freiheitliche Verfassung, gegen welche sich vergangen wird, er bestreitet die Autorität des Häuptlings und wirft ihm Machtmissbrauch vor oder malt dem Häuptling ein Hitlerbärtchen. Er bestreitet letztlich sogar die Anwesenheit einer Bedrohung. Schaut man auf die aktuellen Bilder in den Nachrichten wird aus der Metapher der Sandkastengesellschaft ein Gleichnis.

Unter den „Freiheitskämpfern“ in unseren offenen Gesellschaften sieht man alles das: Diktaturvergleiche neben Grundgesetzen und vor allem eine kritische Expertise, die vorgeschoben wird. Man ist Experte oder hat zumindest eine Meinung, auf welche man sich Amgriffe verbietet. Wenn man weder fundierte Kenntnisse von Recht noch von Virologie hat, sind alle wirklichen Experten eben Scharlatane oder Konspiratoren. Die untere Ebene, Unmöglichmachung der Person, also. Es wundert nicht, wenn Wissenschaftler zu Abgesandten einer zionistischen Weltverschwörung deklariert werden, um sie unglaubhaft zu machen. Kommt das aus dem Frust des kleinen Mannes, nicht gehört und ernst genommen zu werden? Vielleicht. Aber warum diskutiert niemand mit, wenn es um Bildung, Auslandseinsätze, Digitalisierung oder soziale Gerechtigkeit geht? Womöglich deshalb, weil das Virus gegenwärtig und nicht hypothetisch ist; weil seine Auswirkungen Handeln, statt Disputieren erfordern. Jenes Handeln sind in den Augen der Demonstrierenden die Maßnahmen eines Staates, der plötzlich Druck macht und augenscheinlich die individuellen Rechte des Einzelnen nicht mehr der freien Disposition überläßt. Es sind Zwänge wie Ausgangssperren, multiple G-Regeln, Maskenpflicht und generelle Lockdowns.Es sind nicht wegzudiskutierende Freiheitseinschränkungen, welche verordnet werden.

Erst ihre Einschränkung (oder ihr Zugewinn) macht Freiheit spürbar. Die Frage ist aber, was wir heute unter Freiheit verstehen. Der Begriff Freiheit hat ist seit jeher Angriffen und Aushöhlungen ausgesetzt. In vorsäkularer Zeit war Freiheit nach dem Tod im Himmel zu finden, später saugte man ihr das Leben unter ideologischen Vorzeichen aus und machte das Individuum zum Untertanen, dessen Freiheit im Kampf gegen und für lag. Dann kam die freiheitlich-säkulare Phase, welcher der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde in den 1960ern besorgtes Misstrauen aussprach. „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Mit modernem Zeitbezug: „AfD und Covid-Leugner sind Teil eines demokratischen Nährbodens, auch wenn sie ihn vergiften können.“

Freiheit ist inzwischen zu einer höchst privaten, einer egozentrischen, verkommen. Dieser Freiheitsbegriff nährt sich aus den Samen des Neoliberalismus, wonach das frei bestimmte Individuum für sein eigenes Fortkommen verantwortlich. Neoliberale Freiheit ist ein Pathos, nach welchem jeder für sich selbst einstehen muss, wohingegen der Staat Rückhaltung zu üben hat. „Wir regeln das untereinander“ ist das Grundverständnis des freien Marktes. „Wir regeln das miteinander“ ist das Grundverständnis der Demokratie. Im neoliberalistischen Verständnis sind es peers, also Vertragspartner, die untereinander aushandeln, doch man vergisst schnell, dass der Staat den Rahmen dafür schafft. Es wird kompliziert an dieser Stelle, weil die neoliberalistische Auffassung von dispositiven Aushandlungen das Konzept der Theorie des Gesellschaftsvertrages in der Praxis auslebt. Allerdings mit anderen Resultaten, nämlich sozialer Spaltung, statt Gemeinschaft.

Der Staat wird zum Feind, weil er immer nur dann in Erscheinung tritt, wenn die (neoliberalistische) Freiheit beeinträchtigt wird.Es scheint paradox, wenn man sich auf das Grundgesetz beruft und zugleich das Land als Diktatur verschreit. Oder wenn man sich auf „demokratische Werte“ beruft, die gerade nicht positiv besetzt sind, sondern negative Abwehrrechte gegen den Staat darstellen. Freiheit ist, sie wird nicht gegeben. Inzwischen wird oftmals Hannah Arendt zitiert, wenn es um Totalitarismus geht. Um die Einengung der eigenen Bewegungs- und Handlungsfreiheit und um die Abschaffung der Privatsphäre. Der “Wunschtraum totalitärer Polizei”, die Kreuz- und Querverbindungen zwischen Individuen nachzubilden, sie damit zum gläsernen, beherrschbaren Menschen zu machen. Das, alles initiiert in den Augen derer, die auf die Straße gehen, der deep state, die verschworene Verbindung der Mächtigen, “der da oben”. Damit bringt man sich selbst in die machtlose Position, die Arendt gerade dem Menschen nicht zuschreibt. Der Staat sind wir. Du, ich, mein Nachbar. Auch dann, wenn er unbelehrbar, dumm oder zurückgeblieben scheint. Auch dann, wenn wir uns gegenseitig mit Ignoranz strafen, bleiben wir eine Gemeinschaft der territorial Verankerten, die miteinander auskommen müssen.

Da liegt der Hase im Pfeffer. Bleiben wir bei Hannah Arendt und nehmen ein anderes Zitat aus ihrer „Viva activia”: “Die Neuzeit hat im siebzehnten Jahrhundert damit begonnen, theoretisch die Arbeit zu verherrlichen, und sie hat zu Beginn unseres Jahrhunderts damit geendet, die Gesellschaft im Ganzen in eine Arbeitsgesellschaft zu verwandeln.” Die protestantische Ethik Martin Luthers, die sie anspricht, ist der Keim jenes modernen Individualismus, welcher Freiheit als egozentrisches Gut begreifen muss. Dahinter steckt die Aussage, dass der Mensch von Gott für den Himmel erwählt ist oder nicht. Ob das der Fall ist, bestimme sich nicht nach Ablass oder Frömmigkeit, sondern durch die Geburt. Am Grade seiner Tüchtigkeit könne man allenfalls erkennen, ob jemand für Himmel oder Hölle auserwählt sei. Die Arbeit ist damit zum Indikator einer Selbstbestätigung des Menschen geworden, soweit sie zu Früchten führt. Ihre “Herrlichkeit” liegt in der Bestätigung jener protestantischen Tüchtigkeit des Einzelnen. Jeder für sich; die in den großen Villen kommen in den Himmel, die in der schäbigen Butze fahren nach unten. Der Fokus auf die materielle, auf die Habens-Seite, erklärt die allgemeine Geringschätzung von Berufen, die wenig Früchte abwerfen: Kranken- und Altenpfleger beispielsweise. Wenn eine Gesellschaft aus Beifall Lebensgrundlage zu machen versteht, haben wir den alten Freiheitsbegriff überwunden.

Die neoliberalistische Idee ist jene, welche Freiheit als eine der Selbstverwirklichung des Individuums propagiert, die zum Glück führt. In diesem Spiel wird auf Fairness gesetzt, auf Chancengleichheit, auf Verträge und Partner, die sich gleichgestellt begegnen. Eine Mär. Und doch setzen wir aufgeklärten, freien Menschen auf die Idee von einem Gesellschaftsvertrag, in welchem jeder dem anderen Freiheiten zugesteht, indem eigene Freiheiten eingeschränkt werden. Wir verstehen, dass unser Handeln zur allgemeinen Maxime taugen muss, also, dass wir nicht wollen können, dass jeder raubt und mordet. Somit tun wir dies – theoretisch – auch nicht. An dieser Stelle kriecht die neoliberale, arbeits-verherrlichende Idee, ganz nahe an die Demokratie und verquickt sich so sehr, dass uns der Wald vor Bäumen aus den Augen gerät. Ist meine Freiheit die, die Früchte meiner eigenen Arbeit zu ernten? Immerhin arbeite ich ja höchstpersönlich! Das, was der Staat an Steuern nimmt, hat er, so der Anspruch, in sinvolle Lebensgestaltung umzusetzen. Hier kommen die Systemkritiker (die Covid-Leugner, die AfD-Wähler, die Reichsbürger, etc.) in’s Spiel. Sie spüren die Spannung zwischen der Freiheit eines Immanuel Kant, John Rawls oder David Hume und der neoliberalistischen. Man muss dafür keinen davon gelesen haben. Der Systemkritiker spürt den Staat lediglich als etwas, das immer nur nimmt, ge- und verbietet. Er hat auch kapiert, dass irgendwie der Kapitalismus einen Anteil daran besitzt. Der Staat sind “die da oben”, die zionistische Weltverschwörung, die Nehmer, Antreiber. Damit ist die Stellung des Systemkritikers klar: Die des Widerständlers.