Ich sehe den freie Willen als eines der entscheidensten Probleme der Gegenwart. Es ist die Frage nach unserer Selbstwahrnehmung. Und der Umstand einer pervertierten Aufklärung, die Zustand ist, also tot. Nach ihr sind wir autonome Wesen, gottesgleich durch originären Willen. Nach ihr ist die Person zu Vernunft fähig, weil sie einen eigenen Willen hat – und nicht, weil sie vernunftbegabt ist. Was von Vernunft übrig geblieben ist, ist die Möglichkeit, den eigenen freien Willen in einer Willenserklärung zu äußern.
Aus Willenserklärungen werden Verträge, aus ihnen ensteht Schuld. Sie bedeutet Dissonanz mit der Perspektive, sich ihrer zu entledigen. Sie ist Motivator der rationalen Vernunft und hier endet unsere gegenwärtiger Vernunftbegriff. Der eigentliche Ursprung einer emotional-neuroplastischen Entscheidung wird nicht hinterfragt. Wir sind uns der Fremdbestimmtheit unserer Affekte nicht bewußt, dem Wozu unseres Daseins. Das entscheidet immer der, welcher den Begriff Fortschritt mit seinen Vorstellungen ausschmückt.
Fortschritt bedient die Suche nach Selbstwahrnehmung: Schuld ist heute die Dissonanz überhaupt. Sie ist der soziale Kitt der Moderne, das Dispositiv – auch wenn Kapitalismus durch „Technofeudalismus” abgelöst wurde. Zumindest trägt sie den Autonomiegedanken des Vertrags, dem minimalen Ausdruck (Willenserklärung) des autonomen Subjekts. Ohne ihre Verantwortung wird freier Wille problematisch. Und auch wenn Technofeudalismus mit Daten, Profilen und der subjektiven Identität handelt, um Emotionen (desire, Wert) zu erzeugen, braucht er den Anschein von Freiheit, um akzeptiert zu werden. Deswegen kann Schuld nicht abgeschafft werden – sie folgt der Verantwortung der frei-willentlichen Person.
Deswegen besteht die permanente Krise der menschlichen Welt mit der eigenen entfremdeten Selbstwahrnehmung. Es ist eine Frage des Vertrauens in sich selbst das durch Zweifel geprägt ist. Das ist das Gegenteil von trivialer Wiederholung von Botschaften, die in neuroplastische Nervenbahnen geprägt werden. Aus ihnen entstehen unsere persönlichen Urteile. Ihre Fremdheit setzt die Person in einen Modus: dem des Untertanen, der sich auf der Einbildung von Autonomie durch freien Willen begnügt.
Man schreibt über diese Dinge, weil man nicht „will“, dass sie das Soziale und die Welt zerstören. Obwohl die simple Tatsache, dass das Fehlen von minimum conditions (Schutz, Wärme, Nahrung) jeder Person ureigene Emotionen und Getriebenheiten erzeugt. Doch helfen institutionalisierte Machtsysteme hier nicht mehr. Sie sind keine Freunde, die sich stützen. Ihre Unerbittlichkeit ist Gnadenlosigkeit (des Kapitalismus nach Benjamin) in unaufhörlicher In-Verantwortungnahme. Auch Technofeudalismus, der die Introspektion in die Person millionenfach verfeinert hat, bedient sich Affekten. Es erzeugt seine Werte – die ultimative Gleichschaltung bei nie dagewesener Spaltung durch Algorithmen.
Insofern stimme ich zu: die digitale Persönlichkeit ist die neue Macht. Die Möglichkeit unmittelbarer, individuell zugeschnittener Kontrolle. Vom Begehren materieller und immaterieller Güter zum Zwang zu Dissonanz aus ganz persönlicher Furcht. Gepaart mit der Auffassung, selbstbestimmt durch Willen zu sein, wird dieser technokratrische Glaube ein ganz persönlicher. Anders in alten institutionalisierten Religionen, wo eine Botschaft für alle galt, gilt jede für jeden höchstpersönlich. Diese Wahrnehmung der Welt ist eine fundamentale Selbstwahrnehmung, in der alles zusammenpasst – die Fakten, die Argumente, die Umstände, die Lügen … – die sich persönlich rechtfertigt. Das macht Meinung nicht nur zum Ausdruck von Überzeugung; das macht Kritik an Überzeugungen zur Kritik an der Substanz der Person.
Dieser Spaltung kann nur mit mehr Kneipen entgegnet werden.