Bildungskatechismus

Theodor Hosemann Prügelstrafe
„Der Eindruck der Vertrautheit wird vom System 1 erzeugt und stützt sich auf diesen Eindruck für ein Wahr-falsch-Urteil. […] Eine zuverlässige Methode, Menschen dazu zu bringen, falschen Aussagen zu glauben ist häufiges Wiederholen, weil Vertrautheit sich nicht leicht von Wahrheit unterscheiden läßt.“

Stellen Sie sich das tägliche Eintrichtern der sozialistischen Werte in den Schulen der DDR vor (vielleicht waren Sie ja dabei, wie ich) und gleichzeitig einen zermürbenden Zweifel, der sich aus den widersprüchlichen Erfahrungen der Heimlichtuerei, der Einschüchterung, der allmächtigen Autorität nährt. Vom autoritären System nur einen Steinwurf entfernt sind die noch immer modernen Katechismen der Schulsysteme, wo die Antworten der Schüler schon in den Fragen der Lehrer liegen und Antworten nur binär sein können. Das soll keine Verurteilung der Lehrerschaft sein. Ebensowenig bedeutet diese Binarität, dass es keine Grautöne gäbe. Konsequent sind aber Lehrpläne und konsequent sind Beurteilungen von richtig und falsch.

Was richtig sein soll, bestimmt eine Autorität, welche Stabilität durch Konsistenz versichert. Das kann ein Lehrer oder ein Staatsoberhaupt sein; die ultimative Instanz ist die Person selbst. Die Konsistenz fließt aus ihrer Ansage, ihrem Programm, einem unerschütterliches Wahrheitsgefüge; das eines Führers, der über Zweifel erhaben ist. Ihr bestehendes Weltbild ist Garant psychischer Stabilität aus einer Welt-Ordnung, in welcher man sich orientieren kann, weil sie keine Zweifel aufkommen läßt. Das ist früher Autoritarismus, der die Welt zu einer so-muss-es-sein-Sache macht, die nur existieren kann, wenn keine Zweifel bestehen. Weder an Autorität noch deren Welt. Und wieder: ganz so schwarz / weiß ist es nicht im Detail, aber im Großen und Ganzen.

Soziale Systeme zwingen Kinder in eine Werteordnung, zu deren Stabilität Sollenssätze unvermeidlich scheinen. Es gibt Sollenssätze, zu denen Kahnemann gut paßt:

„Der Eindruck der Vertrautheit wird vom System 1 erzeugt und stützt sich auf diesen Eindruck für ein Wahr-falsch-Urteil. […] Eine zuverlässige Methode, Menschen dazu zu bringen, falschen Aussagen zu glauben ist häufiges Wiederholen, weil Vertrautheit sich nicht leicht von Wahrheit unterscheiden läßt.“

Kahnemann, „Schnelles Denken, langsames Denken“, 2021

Wie steht es mit den zehn Geboten? Wie steht es mit dem Herunterleiern von Statuten oder überzogener political correctness? Wer sich wagt, seine Zweifel offenzulegen, setzt sich der Gefahr aus, Finger auf sich gerichtet zu sehen und selbst in Zweifel geworfen zu werden. Die Trägheit eines Wertgefüges ist eine Anti-Dynamik, die schon bei der Person beginnt.

Jeder Mensch kommt durch Bildung früh zu Überzeugungen, was wahr zu sein hat. Je mehr der Katechismus wütet, umso hermetischer wird die Weltanschauung. Aber die alten Zeiten scheinen ja vorüber zu sein. Deutschland ist anti-autoritär, Deutschland ist offen. Deutschland ist so wertoffen, dass es sich nicht um seine Kinder kümmert. In einem Quarantäne-Hotel in Auckland standen mehr Luftfilter auf den Gängen als in allen deutschen Schulen zusammengenommen. Aber Deutschland hat Maßstäbe. Das Notensystem in deutschen Schulen ist zwar nichts Außergewöhnliches, allerdings bietet es die einzige orientierende Größe, an denen Schüler sich messen können. Dem System der Benotung ist Bewertung intrinsisch, es erlaubt Vergleich und bereitet auf ein Leben in Wettbewerb vor. Es ist eine Abstrahierung individueller Persönlichkeiten, indem es spezifische Leistungen auf spezifische Fragen und Schulfächer fokussiert.