Der heiße Herbst der Presse

Es gibt beim ZDF, wie auch bei vielen anderen journalistischen Plattformen, durchaus tiefgehend recherchierte Berichte und Dokumentationen, die Hintergründe aufgreifen. Sie gehören allerdings nicht zu den Medien der prime time, welche die Masse der Rezipienten erreichen. Es scheint, als gäbe es zwei Parallelwelten des Journalismus: Die der Schlagzeilen und die der Recherchen. Die Stimmung im Land wird durch erstere stärker beeinflusst.

Heute ist meteorologischer Herbstanfang. In meinem News-Aggregator begegneten mir gleich zwei Artikel nebeneinander, die vor dem Herbst warnen. Nicht vor dem Wetter – dazu sind Sommer („Hitzewelle“) und Winter („Schneechaos“) prädestiniert – sondern vor der Stimmung im Lande.

Deutschland, so heißt es, stehe ein Herbst der Proteste und Volksaufstände bevor. Sie würden demokratiefeindlich und aggressiv. Getrieben von einer radikalen Wut von links und rechts, befeuert durch steigende Energiepreise und Inflation generell.

Was tut die Presse da? Es sind nicht die ersten Artikel dieser Art, welche sich nicht der eigentlichen Kategorie Berichterstattung unterordnen, sondern die Prognosen von Soziologen und Verfassungsschützern verbreiten. Das Problem hierbei ist allerdings, dass diese Experten eben Prognosen a priori abgeben und keine Urteile. Sofern man von journalistischer Berichterstattung reden will, hat sie hier keine Tatsachen zum Inhalt, sondern sie berichtet über Möglichkeiten, über ungelegte Eier.

Das ist prinzipiell kein Gegenmuster zu journalistischer Arbeit, allerdings hat die Quantität und das epische Ausmaß solcher Formate sehr stark zugenommen hat. Das zieht sich durch alle Medien. Beispielsweise ist die „Gaskrise“ zu einem Begriff geworden, der schon im Frühsommer geprägt und journalistisch weiterverwendet wurde. Ein Beispiel sei die Heute-Sendung des ZDF, in der zehn Sekunden das Format des Berichtes bemüht wird: Die Russen verzögern die Gaslieferungen, weigern sich die in Kanada überholte Gasturbine anzunehmen, während die Gasspeicher in Deutschland zu einem Drittel gefüllt sind. Der Bericht endet hier – und hätte sich beispielsweise mit den Tatsachen beschäftigen können, warum Russland diese Argumente vorschiebt, zu welcher Jahreszeit Gasspeicher normalerweise welche Füllung besaßen, etc. Anschließend wird über mehrere Minuten irgendein Experte darüber befragt, was diese Schnellfakten für Deutschland bedeuten könnten. Es wird anfangs das Wort wenn benutzt und stellt die minutenlange Ausführung in den Konjunktiv. Dies sind journalistischen Berichte über Prognosen statt über Urteile.

Man kann nicht von einem journalistischem Bericht reden, der den Fakt einer Expertenaussage zum Inhalt macht, statt des Faktischen an sich. Die Auswirkungen dieser Art von Journalismus erzeugen dabei allerdings Anschein von Faktizität. Hier liegt die Wurzel des allgemeinen Mißtrauens gegenüber der Medien. Denn Experten haben mehr oder minder wohlbegründete Meinungen. Zum einen stehen diese immer diametral gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen, welche nicht gleicher Meinung sind und zum anderen fühlt man sich als Nicht-Experte übergangen. Experten bilden eben nicht den Querschnitt der Bevölkerung ab. Sie reden nicht von den Dingen, sondern über sie. Das ist ein gewaltiger Unterschied.

Es gibt beim ZDF, wie auch bei vielen anderen journalistischen Plattformen, durchaus tiefgehend recherchierte Berichte und Dokumentationen, die Hintergründe aufgreifen. Sie gehören allerdings nicht zu den Medien der prime time, welche die Masse der Rezipienten erreichen. Es scheint, als gäbe es zwei Parallelwelten des Journalismus: Die der Schlagzeilen und die der Recherchen. Die Stimmung im Land wird durch erstere stärker beeinflusst.

Zudem ist die Möglichkeit, an Informationen zu kommen, so groß wie nie zuvor. Je weniger Platz das Faktische und seine fundierten Hintergründe in journalistischer Berichterstattung findet, umso wertvoller werden andere Meinungen aus dem Internet. Das Format, etwas als Faktum darzustellen und im Anschluß episch mit einer persönlichen Weltsicht schön zu reden, hat sich schon länger etabliert. Die Journalisten unter diesen Informationsverbreitern haben sich scheinbar die Gegenwaffe der Experten herangezogen. Diese Strategie geht nicht auf.

Die Theorie der offenen Gesellschaft setzt freie und autonome Bürger voraus, deren Gleichheit sich in der Aushandlung ihrer Lebensverhältnisse äußert. Der Journalismus ermöglicht diese Autonomie durch seine Informationen. Nicht umsonst ist er die vierte Macht im Staat. Die Quellen dieser Informationen müssen allerdings pluralistisch sein. Jeder darf und muss gehört werden. Das erfüllen die permanenten Expertenbefragungen gerade nicht. Vielmehr vermitteln sie den Anschein, dass der Journalismus durch seine Experten belehren möchte und mit den anderen Säulen des Staates verschmolzen ist. Es weckt gerade im Osten Deutschlands, wo Menschen durch ideellen Bildungskatechismus getrieben wurden, Mißtrauen. Die Folgen sind seit Jahren zu beobachten.

https://www.zeit.de/news/2022-09/01/soziologe-proteste-zielen-gegen-liberale-demokratie